von Oliver Timmermann , RA, Kanzlei Michaelis
Zugleich Anmerkung zu LSG Baden-Württemberg, 17.11.2023 – L 8 R 1779/22
Die Bestimmung des Personenkreises, der aus der Vertriebsbranche als typisierend schutzbedürftig i. S. des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI angesehen werden muss, birgt für das Sozialrecht nach wie vor Unsicherheiten. Mit Urt. v. 17.11.2023 stellte nun das LSG Baden-Württemberg fest (vgl. LSG Baden-Württemberg, 17.11.2023 – L 8 R 1779/22, BeckRS 2023, 41290; anders die Vorinstanz SG Mannheim, 24.5.2022 – S 13 R 759/20), dass ein Versicherungsvermittler, der für eine Servicegesellschaft (die E1 AG) als Handelsvertreter tätig ist, wegen seines gleichzeitigen Status als “selbständiger Makler” für diese nicht als seine alleinige Auftraggeberin tätig sei. Auftraggeber seien vielmehr die Vielzahl der von ihm beratenen Kunden. Die Servicegesellschaft träte lediglich als Abrechnungsstelle in Erscheinung. Das Urteil muss streng verwundern. Es setzt sich in direkten Widerspruch zu Vorentscheidungen, ohne dass Abweichungen überhaupt thematisiert werden. Als Problem ist die typologische Betrachtung der Merkmale “selbständig” und “einen Auftraggeber” auszumachen, verbunden mit der Frage, ob bzw. inwieweit zivilrechtliche Abgrenzungen übertragen werden können (vgl. unter I.). Eine Bemerkung zur richterrechtlichen Fallgruppenentscheidung steht am Schluss des Artikels (vgl. unter III.).
- Sozialversicherungsrechtliche Typologie
- Grundlagen
Die Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Sachverhalte erfolgt einerseits aufgrund einer sog. typisierenden Betrachtung.1 Die nähere Prüfung, ob der konkrete Kläger “schutzbedürftig” ist, bedarf es gerade nicht. Wenn der Selbständige sich keinen eigenen Angestellten leisten kann und nur von einem Auftraggeber abhängig ist, sind dies Anhaltspunkte genug, von einem Regelsachverhalt auszugehen, der eine Schutzbedürftigkeit indiziert. Diese am Sachverhalt ansetzende Betrachtung ist jedoch wiederum von der normativen Typologie zu unterscheiden, die anstelle des klassifikatorischen Begriffs eine wertende Zuordnung im Obersatz der Rechtsprüfung erlauben soll.2 Die unbestimmten Rechtsbegriffe “selbständig” und “Auftraggeber” bedürfen, um als Sachverhaltsmerkmale fungieren zu können, zuvor einer Bestimmung. Für das Merkmal “selbständig” führte das LSG Baden-Württemberg in seiner Entscheidung aus 2011 noch aus:
“Wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, darf im Sozialversicherungsrecht an den Begriff der Selbstständigkeit im HGB jedenfalls dann angeknüpft werden, wenn er wie beim Handelsvertreter den gleichen Inhalt hat.”3
Der Handelsvertreter nach § 84 Abs. 1 HGB ist selbständig. Ein Befund, der aber nichts daran ändert, dass dieser zugleich in schutzbedürftiger Weise auch in das Unternehmen des Prinzipalen integriert sein kann.4 Das Merkmal “Auftraggeber” dagegen konnte, nach einer Entscheidung des LSG Baden-Württemberg aus dem Jahre 2011, weder beim Versicherungsvertreter noch beim Versicherungsmakler der Kunde oder der Versicherer erfüllen. Da der Vermittler selbst nicht Partei des zustande kommenden Versicherungsvertrages wird, besteht zu diesen Dritten insoweit kein vertragliches Band.5 Nach der jetzt vorliegenden Entscheidung soll jedoch allein die gewerbeordnungs- bzw. versicherungsvertragsrechtliche6 Wertung des Klägers als selbständiger Makler maßgeblich sein. Die handelsrechtliche Beziehung zum Prinzipalen wird dagegen ausgeblendet. Es besteht mithin Konfusion. Die Schutzbedürftigkeit des Handelsvertreters ist nicht nur vorrangiges Ziel der Handelsvertreter-Richtlinie7, dieser ist als “selbstständige Hilfsperson des Kaufmanns” kaum mehr als dessen qualifizierte Zweigniederlassung.8 Sozialversicherungsrechtliche Normen sind autonom auszulegen, folgen also nicht zwingend dem Zivilrecht. Ob der Handelsvertreter von einem Auftraggeber abhängig ist, kann mithin nicht allein von einer zivilrechtlichen Rekonstruktion abhängen. Doch woran wollen sich die sozialversicherungsrechtlichen Kriterien sonst orientieren, wenn die zentrale Wertung des handelsrechtlichen Status unerwogen bleibt? Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung, ob eine Auftraggeberstellung vorliegt, bilden die handelsrechtlichen Grundsätze einen schwerwiegenden Anhaltspunkt.
- “Typologische Betrachtung” muss Vertragsverhältnis beachten
An dieser Stelle kommt man zur typologischen Betrachtung. Nach der Entscheidung des BSG vom 4.11.2009 (Backshop-Urteil)9 ist Auftraggeber i. S. des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI, wer “im Wege eines Auftrags oder in sonstiger Weise eine andere Person mit einer Tätigkeit betraut, sie dieser vermittelt oder ihr Vermarktung oder Verkauf von Produkten nach einem bestimmten Organisations- und Marketingkonzept überlässt und dadurch eine wirtschaftliche Abhängigkeit des selbständig Tätigen ihr gegenüber begründet”.
Eine solche Einbindung erfordert nach Auffassung des BSG zunächst eine vertragliche Bindung,10 die es dem Selbständigen nicht nur ermöglicht, sich des Organisations- und Marketingkonzepts zu bedienen, sondern die ihm zugleich “nicht nur unwesentliche Verpflichtungen” auferlegt, für einen anderen, den Auftraggeber, auch tätig zu werden. Diese “Wesentlichkeit” ist dann Gegenstand empirischer Zuordnung auf wertender Grundlage. Tatsächlich geschieht es im Versicherungsvertrieb nicht selten, dass ein Vermittler, der gewerbeordnungsrechtlich den Status eines “Versicherungsmaklers” nach § 34d Abs. 1 Nr. 2 GewO inne hat, handelsrechtlich zugleich auch als Handelsvertreter für einen Unternehmer tätig ist. Hingegen hilft der Hinweis im LSG-Urteil von 2011, wonach ein Versicherungsvermittler, der als Handelsvertreter eines Versicherungsmaklers tätig wird, nach § 59 Abs. 3 VVG auch “selbst als Versicherungsmakler i. S. des § 59 Abs. 3 VVG” angesehen werden kann, so nicht weiter.
Der dortige Verweis auf BT-Drs. 16/1935 11 führt lediglich den bekannten Grundsatz aus, dass sich der Status des Versicherungsmaklers nach § 59 Abs. 3 VVG anhand der objektiven Kundenwahrnehmung beurteilt, wie dies nun auch in § 34d Abs. 1 S. 2 GewO festgeschrieben ist und für diesen Pseudomakler eine Haftung als Makler zur Folge hat.12 Auswirkung auf die interne Beziehung des Handelsvertreters zum Prinzipalen hat diese gesetzliche Fiktion aber gerade nicht.13 Viel bedeutsamer, aber bereits damals ausgeblendet, ist der Umstand, dass der Handelsvertreter im Staus des Versicherungsvertreters nach § 92 HGB den Antrag für seinen Unternehmer “vermittelt”, d. h. er schließt keinen Vertrag im fremden Namen, sondern bringt den Kunden unternehmensbezogen mit dem Prinzipalen zusammen. 14 Die LSG-Entscheidung aus 2011 stellte aber richtigerweise den Handelsvertretervertrag in den Fokus ihrer weiteren Überlegungen. Auch der Kläger im Sachverhalt des LSG-Urteils aus dem Jahre 2023 war lediglich “Vermittler” i. S. des § 84 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. HGB und kein Abschlussvertreter.
- Die Entscheidung des LSG
Das LSG Baden-Württemberg folgt in seiner jetzigen Entscheidung dagegen vollkommen den Angaben des Klägers, wonach dieser angeblich keinen Weisungen unterstünde, keine Quoten zu erfüllen noch sonst Leistungsvorgaben zu beachten hätte und keiner “Gebietsbeschränkung” unterläge; er sei vorgeblich auch nicht in irgendeine “Arbeitsorganisation eingegliedert” und die Provision würde von den Kunden gezahlt, die Servicegesellschaft übernähme lediglich Abrechnungsdienste. Das Gericht hat jedoch im Tatbestand Auszüge des “Handelsvertretervertrages” zwischen dem Kläger und der E1 AG wiedergegeben. Danach (vgl. Ziff. 2.1 HV-Vertrag) war dieser verpflichtet, “neue Kunden zu werben, bestandsfähige Verträge für die E1 AG zu vermitteln”15 und in Ziff. 2.3 HV-Vertrag wird festgestellt, dass der Kläger “nur zur Vermittlung, nicht zum Abschluss von Geschäften berechtigt” sei; in Ziff. 4.1. HV-Vertrag wird des Weiteren bestimmt, dass dieser “für seine Vermittlungstätigkeiten eine Provision (erhält), die durch das jeweils gültige E1 Vergütungssystem bestimmt und festgelegt wird” und schließlich hält Ziff. 6.1 HV-Vertrag fest, dass der Kläger für die E1 AG “ausschließlich tätig” wird.
Warum die baren Behauptungen des Klägers16, dessen Dafürhaltungen aus einer jur. Laiensphäre, die eindeutigen vertraglichen Regelungen aushebeln konnten, letztere sogar gänzlich unberücksichtigt blieben, ist unverständlich. Eine methodische Auseinandersetzung findet nicht statt. Das LSG Baden-Württemberg selbst hatte noch in seiner Entscheidung (hier war es allerdings der 7. Senat) aus dem Jahr 2020 entschieden, dass jedenfalls bei einem Ausschließlichkeitsvertreter regelmäßig Grund zu der Annahme eines “Auftraggebers” besteht.17 Auch die Ausführung des Ausgangsgerichts zu der fünf-sechstel-Regel ließ der Senat aktuell unbeachtet.18
Wenn der 8. Senat dagegen darauf abstellen möchte, dass eine wirtschaftliche Abhängigkeit des Maklers nicht dadurch entstünde, dass die Servicegesellschaft für ihn die Abrechnung bzw. Abwicklung der Verträge übernimmt, er von dieser “nur” eine entsprechende Provision erhält und dabei auf das Urteil des SG Lüneburg vom 2.11.2022 rekurriert, ist dies kein solides Argument.19 In der zitierten Entscheidung ging es um die Frage, ob ein Makler-Pool einem assoziierten Handelsmakler “Auftraggeber” i. S. des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI sein könne. Dabei handelt es sich um eine vollkommen andere Kooperationsform unter Handelsmaklern.20 Hier lag jedoch ein Handelsvertretervertrag vor. Doch selbst bei einem Pool-Makler kann aber – werden die dort anzutreffenden faktischen Abhängigkeiten innerhalb dieser ambidextren Hybridorganisationen berücksichtigt – sozialversicherungsrechtlich durchaus eine Abhängigkeit vorliegen; die Äußerungen des SG Lüneburg sind denn auch nicht unwidersprochen geblieben.21
III. Methodische Vorgaben
Will das Sozialversicherungsrecht seine Normen autonom bestimmen, ohne bloß auf das Zivilrecht zu verweisen, sind auch dabei gewisse methodische Vorgaben unerlässlich. Selbst wenn der “Auftraggebers” i. S. des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI als unbestimmten Begriff für flexible typologische Zuordnungen geöffnet wird22, muss in der Obersatzbildung eine argumentative Auseinandersetzung mit Vorgänger-Entscheidungen stattfinden, die einen vergleichbaren Fall komplett anders entschieden haben.23 Mag das Richterrecht unser Schicksal bleiben,24 so darf die Rechtsgemeinde immerhin doch nach wie vor eine gewisse Erwartungssicherheit verlangen. Das setzt voraus, dass bei der Entscheidung über eine Fallgruppenzugehörigkeit ein Minimum an Nachvollziehbarkeit erkennbar wird. Soll mithin von einer zuvor festgelegten Ähnlichkeits-Regel abgewichen werden, verlangt dies zumindest nach einer Begründung.
Eine Methodologie des Richterrechts ist bislang nicht gefunden. Sind die Thesen seiner Bändigung vielfältig bis ungeordnet, so ist der faktische Einfluss jedoch immer stärker geworden. Das dahinterstehende methodische Problem ist die fehlende Formalisierbarkeit von Ähnlichkeitsurteilen. Man bleibt angewiesen auf eine umsichtige Auswertung der zuvor gewonnenen empirischen Ergebnisse, d. h. kann der Merkmalsbestimmung (eigener) Vorgängerergebnisse nicht ausweichen.25
Zum Autor:
Oliver Timmermann ist seit 1999 Rechtsanwalt, zunächst in München für die Kanzlei Prof. Nauschütt im Bereich Versicherungsrecht und Franchiserecht, ab 2018 in der Kanzlei Michaelis in Hamburg, dort für das Dezernat Versicherungs-Vertriebsrecht.
Fußnoten
1) Vgl. BSG, 24.11.2005 – B 12 RA 1/04 R, BSGE 95, 275, unter II. 1.) lit. e).
2) Vgl. Roloff, in: Brose u. a. (Hrsg.), FS Preis, 2021, S. 1087, 1091 f.; Krause, Mitarbeit im Unternehmen, 2002, S. 141 ff. m. w. N.
3) Mit Hinweis auf BSG, 10.5.2006 – B 12 RA 2/05 R, NZS 2007, 97 f.
4) Vgl. i. E. Busche, in: Omlor (Hrsg.), FS Martinek, 2020, S. 107 ff.
5) Vgl. LSG Baden-Württemberg, 1.2.2011 – L 11 R 2461/10, NZS 2011, 946 f.; hier nahm das LSG seinerzeit Bezug auf BSG, 4.11.2009 – B 12 R 7/08 R. Vgl. unter BeckRS 2010, 66916.
6) Das LSG Baden-Württemberg verwies 2011 für den Makler, der für einen anderen Makler zugleich auch als Handelsvertreter tätig wird, auf BT-Drs. 16/1935, 22, wonach auch dieser als
Makler anzusehen sei und umging das Problem; so auch Dörner, in: Prölss/Martin, VVG, 32. Aufl. 2024, § 59, Rn. 65.
7) Vgl. Emde/Valdini, ZVertriebsR 2016, 353, 355.
8) Vgl. Schmidt, JuS 2008, 665, 669.
9) Vgl. BSG, 4.11.2009 – B 12 R 3/08 R, NZS 2010, 145 ff.; auch BSG, 23.4.2015 – B 5 RE 21/14 R, BSGE 118, 286.
10) Ist dem Betreffenden die Tätigkeit für andere Auftraggeber erlaubt, ist er jedoch faktisch an den Auftraggeber gebunden, so reicht diese faktische Bindung aus, vgl. BT-Drs. 14/1855, 7.
11) Vgl. BT-Drs. 16/1935, 23 und Dörner, in: Prölss/Martin, VVG, 32. Aufl. 2024, § 59, Rn. 65.
12) Vgl. Schulze-Werner, GewArch 2017, 418 ff.; OLG Dresden, 16.5.2019 – 4 U 441/19, VersR 2020, 98 f.
13) Vgl. Romahn, Vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung und effektiver Schutz des VN, 2020, S. 295 ff.
14) Vgl. Bergmann, in: Oetker, HGB, 8. Aufl. 2024, § 383, Rn. 15 m. w. N.
15) Hervorhebung durch den Verfasser.
16) Dessen Behauptung, dass im Finanzdienstleistungsvertrieb “Gebietsvorgaben” angeblich häufig anzutreffen wären, wird bereits durch § 92 Abs. 3 S. 2 HGB widerlegt.
17) Vgl. LSG Baden-Württemberg, 30.7.2020 – L 7 R 2030/19, BeckRS 2020, 21873, Rn. 26 ff.
18) Vgl. dagegen LSG Baden-Württemberg, 11.10.2021 – L 11 R 3681/20, NWB 2022, 80.
19) Vgl. SG Lüneburg, 1.11.2022 – S 4 BA 32/19, ZVertriebsR 2023, 236 ff. m. Anm. Timmermann.
20) Vgl. OLG Nürnberg, 10.8.2022 – 8 U 840/22, r+s 2023, 431 ff. und mit Anmerk. Grams unter: FD-VersR 2022, 451635, verweist darauf, dass ein solcher Pool nicht “vermittelt”, dennoch verfügen diese zum einen i. d. R. selbst über eine Maklererlaubnis nach dem Gewerbeordnungsrecht und sind diese zum anderen aber als Treuhänder des Vermittlungsmaklers auch selbst Handelsmakler.
21) Vgl. LSG Bayern, 3.6.2016 – L 1 R 679/14, ZVertriebsR 2016, 369 ff. m. Anm. Flohr.
22) Im Gegensatz zur strengeren begrifflichen Subsumtion, vgl. Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 22, 143 ff., wonach das flexiblere typologische Denken von den Unzulänglichkeiten starrer Begriffszuordnungen befreien sollte.
23) Vgl. zur Nähe der Typusbildung zur Analogie Wernsmann, DStR-Beih. zu Heft 31/2011, 72 ff.
24) Vgl. Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 445.
25) Vgl. dazu auch Röhl, Analogie, Logik und Argumentationstheorie, unter www.rsozblog.de/analogie-logik-und-argumentationstheorie/ (Abruf: 11.10.2024).
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