Künstliche Intelligenz (KI) bietet vielfältige Möglichkeiten, modernen Kunden zuzuhören, von ihnen zu lernen und sie in der Customer Journey einzubinden. Was steckt drin für Versicherer und was machen sie daraus? Der AMC im Gespräch mit Dr. Götz Volkenandt (promovierter Luft- und Raumfahrttechniker) und Dirk Niederhaus (kreativer Provokateur).
AMC: Warum erleben wir offensichtlich gerade jetzt einen Durchbruch von KI?
Es gibt aktuell eine günstige Konstellation: Technologische Voraussetzungen für den Durchbruch einiger Technologien sind geschaffen worden und die Unternehmen spüren, dass sie in puncto Digitalisierung noch großes Verbesserungspotenzial haben.
Große IT-Konzerne und Entwickler-Community fördern Durchbruch
Allem voran helfen Rechenleistung und Speichergröße. Doch die reine Hardware-Entwicklung allein hätte den Durchbruch nicht geschafft. Wir haben es den großen IT-Konzernen zu verdanken, dass Entwicklungen als Open-Source-Bibliotheken der Entwickler-Community zur Verfügung gestellt wurden, allen voran der Alphabet-Konzern mit der Tensor-Flow-Library zur Programmierung neuronaler Netze. Die Entwickler wiederum haben sich in breiter Masse darauf eingelassen und begonnen zu experimentieren. Da viele erfolgreiche Experimente dabei waren, gab es einen regelrechten „Run“ auf die heute in großer Menge verfügbaren Entwicklungstools.
Die IT-Konzerne suchen nach Anwendungsmöglichkeiten und unterstützen daher „großzügig“ mit entsprechenden Angeboten, z.B. kostenloser Server-Kapazität für eigene Experimente oder die Nutzung von proprietären Lösungen über die Bereitstellung von Schnittstellen, sogenannten APIs. Die Open-Source-Bibliotheken zur Entwicklung von KI-Lösungen werden heute von mehr Entwicklern gleichzeitig weltweit erweitert, ergänzt und verbessert, als irgendein Produkt jemals zuvor. Viele Neugründungen sind bereits mit „kleinen Lösungen“ erfolgreich und verstärken Angebot von und Nachfrage nach KI-Lösungen und -Kapazitäten.
Unternehmen mit Digitalisierungsstau
Auf der anderen Seite stehen Unternehmen mit einem riesigen Stau in der Digitalisierung. Dabei haben es Finanzdienstleister besonders schwer, den jungen Unternehmen die Stirn zu bieten. Denn die Altverfahren können nicht einfach ersetzt und abgeschaltet werden. Die Anforderungen an die Verfügbarkeit „alter Daten“ ist in den regulierten Branchen besonders hoch. Doch den Bedarf an weiterer Digitalisierung spüren alle Unternehmen. Und dieser Bedarf schlägt sich in einer Nachfrage nieder, die auch der KI zu einem beschleunigten Durchbruch verhilft.
Apropos „Durchbruch“: Die Entwicklung läuft beschleunigt weiter: Wir wissen noch gar nicht, was wir noch alles als „Durchbruch“ bezeichnen werden.
AMC: Welche Einsatzmöglichkeiten sehen Sie für den Einsatz von KI in Marketing und Vertrieb? Und hier speziell für Versicherer?
Wir denken immer von der Nutzen-Seite und fragen daher zunächst nach den Strategien der Unternehmen, die sich in den meisten Fällen voneinander unterscheiden. Daher ist Versicherer hier nicht gleich Versicherer. Gerade beim Einsatz von Mitteln der Digitalisierung, z.B. KI, sind die Optionen sehr vielfältig. Als Versicherer kann man der Überzeugung sein, dass man nur mit hochpreisigen Produkten Geld verdienen kann, die dem potenziellen Kunden unbedingt von einem Vertreter bzw. Versicherungsexperten persönlich erläutert werden müssen, um die Produkte in das rechte Licht zu rücken. Mit dieser Überzeugung wird ein Versicherungsunternehmen kaum künstliche Intelligenz im Front-Office anwenden wollen, jedenfalls nicht an der Kundenschnittstelle.
Sinnvoller Einsatz von KI von der Unternehmensstrategie abhängig
Ist man im Unternehmen aber der Überzeugung, dass z.B. Erreichbarkeit eine ganz wesentliche Voraussetzung für gute Geschäfte ist, dann könnte die Erreichbarkeit wochentags von 8:00 bis 20:00 möglicherweise nicht ausreichen. In diesem Fall ließen sich beispielsweise „intelligente Chatbots“ oder „intelligente Telefoncomputer“ verwenden, um ein bestimmtes Maß an Auskunftsfähigkeit auch in diesen Randzeiten anzubieten, in denen gerade auch die junge und erfolgreiche Kundenschicht Zeit hat, jedoch rasch auf der Website der Konkurrenz unterwegs ist, wenn die gesuchte Information nicht schnell zu finden und niemand zu erreichen ist.
So hängt der sinnvolle Einsatz von künstlicher Intelligenz sehr stark von der Strategie des Unternehmens ab, denn die soll mit diesem Einsatz unterstützt werden. Doch grundsätzlich sind der Fanatsie hier kaum Grenzen gesetzt. Viele wiederkehrende Prozesse können mit den heutigen Mitteln der Digitalisierung sehr weitgehend automatisiert werden: Es ist mehr eine Frage des Willens als eine Frage der Machbarkeit. Hinzu kommen die Möglichkeiten neuer Geschäftsmodelle, von denen wir die ersten ja bereits seit einiger Zeit am Markt beobachten können.
AMC: Wann lohnt sich der Einsatz von KI im Besonderen? Und wie könnten Risiken aussehen?
Es gibt eine einfache Regel zum Einsatz von KI: In allen häufig wiederkehrenden Prozessen, in denen eine Beurteilung von Informationen vorgenommen und möglicherweise eine Entscheidung getroffen wird, lässt sich KI erfolgreich einsetzen, wenn es eine ausreichend große Datenhistorie gibt, die zum Training verwendet werden kann. So kann mit Mitteln der KI beispielsweise die Verwendung von Formulierungen in der Kundenansprache optimiert werden, denn jedes Gespräch könnte einer Beurteilung unterzogen werden.
Zugegeben, das ist eine recht abstrakte Antwort. Aber die Antwort „die Anwendungsgebiete XYZ sind besonders lohnenswert“ halten wir schlicht für falsch. Die KI-Entwicklung erfolgt derzeit und auf absehbare Zeit so rasant, dass sich diese Anwendungsfelder XYZ nicht etablieren können. Stattdessen sind Tage, spätestens Monate später wieder neue Anwendungsgebiete sehr aussichtsreich.
Trend: natürlichsprachige Kommunikation mit KI abbilden
Einen Trend können wir allerdings erkennen: Die natürlichsprachige Kommunikation lässt sich auf absehbare Zeit mit KI abbilden, d.h. die Benutzerschnittstelle zum Computer wird ähnlich Siri, Echo etc. in Zukunft auch zwischen Kunden oder Mitarbeitern und Unternehmensdiensten auf Basis von KI möglich sein. Call-Center klassischen Zuschnitts braucht dann niemand mehr. Grenzen der Erreichbarkeit und Wartemusik sollten dann auch Geschichte sein.
Größtes Risiko beim Einsatz von KI ist der Mensch
Jede Veränderung birgt auch Risiken in sich – so natürlich auch der Einsatz von KI. Um nur einige Risiken an der Oberfläche anzureißen: Das größte Risiko beim Einsatz von KI ist nach wie vor der Mensch – bei der Einschätzung der Machbarkeit, der Qualität von Lösungen, der Qualität von Trainingsdaten, der Konzeption der Lösung etc. … und natürlich kann alles auch missbraucht werden, auch KI-Lösungen, wissentlich oder unwissentlich.
Auch die Technik schwächelt manchmal noch
Ein ganz spezifisches technisches Risiko wollen wir hier gern herauspicken: Die aktuellen Architekturen künstlicher neuronaler Netze können zwar mindestens ebenso gute Ergebnisse liefern, wie das Menschen könnten, sie können allerdings in vielen Lösungsansätzen noch keine Erklärungen dafür liefern, was wir Menschen allerdings auch oft nicht „rein rational“ können. Die Ergebnisse eines Bearbeitungs- oder Entscheidungsprozesses können nun aber einschneidende Konsequenzen für Menschen haben, z.B. die Einschätzung der Kreditwürdigkeit. Gibt es keine Erklärung, so kann es sein, dass die KI-Lösungen eine geringe Akzeptanz erlangen. Deshalb arbeiten derzeit auch viele Entwickler an Lösungen, um dieses Manko zu beheben.
Und Entwickler wissen auch nicht immer was sie tun
Allgemein betrachtet ist auf der rein technischen Seite das größte Risiko, dass Entwickler und Auftraggeber nicht genau wissen, was sie tun. Die Mathematik z.B. hinter neuronalen Netzen muss soweit verstanden sein, dass man genau weiß, was man wie mit welchen Restriktionen entwickelt. Ein Beispiel dazu: Ein automatisch fahrender Tesla ist mit voller Geschwindigkeit in einen querverkehrenden Lkw gefahren. Nach der Auswertung der Daten dieses Unfalls ist aufgefallen, dass die weiße Plane des Lkws vermutlich als „Himmel“ interpretiert wurde. Da es nicht genügend Trainingsdaten einer ähnlichen Situation gab, wurde die Situation vom System so interpretiert, wie die Trainingsdaten das hergaben: „Wenn alles über der Straße hell ist auf einer vor dem Fahrzeug liegenden Kreuzung, dann ist das wohl Himmel“. Die Entwickler hätten sich davon überzeugen müssen und möglichst viele unübliche Situationen und Bilder dieser Situationen erzeugen müssen. Die Trainingsmechanismen hingegen haben gut funktioniert. In diesem Beispiel waren also unzulängliche Trainingsdaten die Ursache.
AMC: Wo wird der Mensch noch gebraucht? Und wie können Unternehmen den Ängsten ihrer Mitarbeiter begegnen?
Die Welt verändert sich jeden Tag, das bedeutet auch Veränderung für Mitarbeiter. Die größte Angst besteht in der fehlenden Sicherheit: Welche Aufgaben werde ich in der Zukunft haben? Welche Anforderungen werden zukünftig an mich gestellt? Werde ich überhaupt eine angemessene Rolle im Unternehmen ausfüllen dürfen? Werde ich noch gebraucht?
Führungskräfte in der Verantwortung
Die Unternehmen, d.h. alle Führungskräfte des Unternehmens haben die Verpflichtung, sich über diese Fragen ihrer Mitarbeiter Gedanken zu machen. Deshalb ist es auch die Aufgabe aller Führungskräfte, sich mit der Zukunft des Unternehmens auseinanderzusetzen. Wichtig ist also zunächst, sich als Führungskraft selbst Klarheit zu verschaffen, um den eigenen Mitarbeitern mehr Klarheit geben zu können. Mehr Klarheit über die Strategie des Unternehmens und des selbst verantworteten Bereichs, mehr Klarheit über die dafür notwendigen Kompetenzen und Kapazitäten.
Erfolgswillen und gute Mitarbeiter bleiben entscheidend
Wir wollen aber noch eine zweite Antwort geben: Nur Unternehmen, die einen deutlichen Erfolgswillen haben, die nicht „zu satt sind“, werden nach weiterem Wachstum und größeren Profiten streben. Ohne den unbedingten Erfolgswillen haben Unternehmen keine große Perspektive und bieten damit auch der Belegschaft keine Perspektive.
Konkret bezogen auf den Einsatz von KI wissen wir, dass weiterhin gut ausgebildete und erfahrene Mitarbeiter gebraucht werden; wer soll sonst die KI trainieren? In Zeiten, in denen sich Kundenwünsche und Vorstellungen ständig ändern, ist auch eine „statische KI“ kein dauerhafter Wettbewerbsvorteil.
AMC: Was würden Sie den Versicherern in Sachen KI empfehlen? Bzw. wo sehen Sie aktuell die lohnenswertesten Einsatzfelder?
Wir haben einen nicht repräsentativen Feldversuch unternommen und Versicherungsgesellschaften und -vertreter angerufen sowie Websites nach bestimmten Auskünften durchsucht.
KI schläft nicht: Kunden erwarten Antworten – zu jeder Zeit!
Die wichtigste Erkenntnis daraus ist, dass viele Unternehmen schlecht erreichbar sind und die Fragen eines potenziellen Kunden auf der Website nicht beantwortet werden. Deshalb lautet unsere einfache Empfehlung: Beziehen Sie in alle Innovationen und Verbesserungen KI als Lösungselement ein! Haben Sie dabei nicht zuviel Respekt vor KI, KI kann genau das, was Menschen, die etwas häufig wiederholen, auch können.
Und: Arbeiten Sie an Ihrer Erreichbarkeit und Auskunftsfähigkeit. Ein einfacher und nicht allzu schwieriger Anfang könnte ein „intelligenter Chatbot“ sein, z.B. für die Zeit von abends 20:00 bis morgens um 8:00; nicht nur, um erreichbar zu sein, sondern auch und gerade, um Daten über die Kundenkommunikation zu sammeln und auszuwerten.
Über die Interviewpartner:
Dr. Götz Volkenandt ist promovierter Luft- und Raumfahrttechniker, Berater, Buchautor und Lehrender an der Berlin School of Economics and Law.
Dirk Niederhaus ist kreativer Provokateur, People Enthusiast und Gefährte bei Unternehmensentwicklung und Strategieumsetzung.
Verantwortlich für den Inhalt:
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