Inflation führt zu höheren Schadenkosten: Der steigende Kostendruck könnte die Dekarbonisierung der Branche und Sicherheitsinitiativen ausbremsen.
Auf dem Seeweg werden rund 90 Prozent des weltweiten Handels abgewickelt. Umso wichtiger ist die Sicherheit auf See. In diesem Bereich hat die Branche in den vergangenen zehn Jahre erhebliche Verbesserungen erreicht, die 2022 zu einem historischen Tiefstand bei den Verlusten großer Schiffe führten. Zugleich sollte sich der Schifffahrtssektor in den kommenden zwölf Monaten auf zahlreiche Herausforderungen einstellen: Faktoren wie wachsende Brandrisiken, bestehende und neue Gefahren im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, Anforderungen an die Dekarbonisierung, allgemeine ökonomischen Unsicherheiten und steigende Schadenkosten verstärken sich teilweise gegenseitig. Das ist das Ergebnis der Safety and Shipping Review 2023 des Versicherers Allianz Global Corporate & Specialty SE (AGCS).
„Die gute Nachricht: Die Zahl der Schiffsverluste ist auf ein Zwölf-Jahres-Tief gesunken. Dies spiegelt den positiven Einfluss von Sicherheitsprogrammen, mehr Trainings, verbessertem Schiffdesign und strengerer Regulierung wider“, sagt Justus Heinrich, Leiter der Schifffahrtsversicherung der AGCS in Zentral- und Osteuropa. „So erfreulich die Ergebnisse sind, es ziehen bereits die nächsten Stürme auf: Über ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine macht die wachsende Schattenflotte aus Öltankern Reedern, Crews und Versicherern Sorgen. Außerdem muss die Branche die Themen der Brandverhütung und falschen Deklaration gefährlicher Güter in den Griff bekommen. Ansonsten wird sie nur eingeschränkt von den Effizienzgewinnen immer größerer Schiffe profitieren. Hinzu kommt ein Faktor, der nicht nur der Schifffahrtsbranche zu schaffen macht: die Inflation. Sie treibt die Kosten von Kasko-, Maschinen oder Transportschäden. Die Dekarbonisierung ist ein weiterer Faktor in diesem Bündel an Herausforderungen. Zwar treibt die Branche das Thema Nachhaltigkeit voran, doch könnten die wachsenden ökonomischen Zwänge die Dekarbonisierung, genau wie Initiativen für mehr Sicherheit, zurückwerfen.“
Die jährliche AGCS-Studie analysiert die gemeldeten Schiffsverluste und -unfälle über 100 Bruttotonnen. Im Jahr 2022 wurden weltweit 38 Totalverluste von Schiffen gemeldet, im Jahr zuvor waren es noch 59. Dies entspricht einem Rückgang der jährlichen Verluste um 65 Prozent in zehn Jahren. Zum Vergleich: 2013 wurden noch 109 Totalverluste gemeldet, vor 30 Jahren sogar über 200 pro Jahr.
Südchina, Indochina und Indonesien bilden als maritime Region den weltweiten „Hotspot“ für Verluste – sowohl im vergangenen Jahr als auch in den vergangenen zehn Jahren. In der Region ereignete sich 2022 einer von fünf Verlusten (10), in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 204. Die Ursachen dafür liegen im intensiven Handel, stark beanspruchten Häfen, veralteten Flotten und Wetterextremen. Mit großem Abstand folgen der Persische Golf, die Britischen Inseln und das westliche Mittelmeer als Regionen mit insgesamt drei Totalverlusten. Ungefähr ein Viertel der Verluste betraf 2022 Frachtschiffe (10), wobei die Hauptursache über alle Schiffstypen hinweg war, dass sie sanken – dies betraf über die Hälfte (20). Zweithäufigste Ursachen waren Feuer und Explosionen (8), es folgen Schiffskollisionen (4).
Während die Zahl der Schiffsverluste seit 2015 kontinuierlich sinkt, ist die Zahl der Schiffsunfälle auf konstant hohem Niveau (3.032 im Jahr 2022, 3.000 im Jahr 2021). Fast die Hälfte der Vorfälle weltweit (1.478) war auf Maschinenschäden und Ausfälle zurückzuführen, auf Platz 2 folgen Kollisionen und auf Platz 3 Brände. Deren Zahl stieg auf ein Zehn-Jahres-Hoch: Erfasst wurden im vergangenen Jahr 209 Feuer – ein Anstieg um 17 Prozent.
Brände an Bord weiterhin Grund zur Sorge
Verschiedene Faktoren tragen zum wachsenden Brandrisiko bei – sowohl auf See als auch an Land. Der allgemeine Trend zu mehr Nachhaltigkeit führt dazu, dass verstärkt Elektrofahrzeuge und batteriebetriebenen Güter transportiert werden. Eine weitere Gefahrenquelle ist der Transport potenziell hochentzündlicher Lithium-Ionen-Akkus, insbesondere auf Containerschiffen und Autotransportern. Dieser Markt wird Prognosen zufolge in den kommenden zehn Jahren jedes Jahr um 30 Prozent wachsen.
Eine der Hauptgefahren, die von den Lithium-Ionen-Akkus ausgeht, ist deren thermische Instabilität: Es drohen Brände, die sich selbst weiter anfachen und sogar Explosionen verursachen können. Die Hauptursachen für solche Brände sind zum einen Produktionsdefekte, zum anderen beschädigte Batteriezellen oder Geräte, eine Überladung oder Kurzschlüsse. Brände in Elektrofahrzeugen sind tückisch, weil sie schwer zu löschen sind und sich spontan wiederentzünden können. „Die meisten Schiffe verfügen weder über ausreichenden Schutz noch über ausreichende Frühwarn- oder Löschfähigkeiten, um solche Brände auf hoher See zu bekämpfen“, sagt Heinrich. „Die Branche sollte sich auf vorbeugende Maßnahmen und Notfallpläne konzentrieren, um dieser Gefahr zu begegnen. Dazu gehört zum Beispiel ein adäquates Training der Crews, der Zugriff auf passendes Feuerlösch-Equipment oder auch die Verbesserung von Frühwarnsystemen. Vorteilhaft wären Spezialschiffe für den Transport solcher Güter.“
Die Brandproblematik verschärft sich durch den Transport gefährlicher Güter auf immer größeren Schiffen. So haben sich die Containerkapazitäten in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Ein Ende ist nicht in Sicht: Die zehn größten Container-Reedereien haben mehr als 400 neue Schiffe bestellt, von denen die Mehrheit größer sein wird, als es die Vorgänger sind. Entsprechend ist die Auswirkung von Bränden potenziell verheerender und kann zu größeren Schäden führen. Brände sind bereits die häufigste Ursache für Totalverluste in allen Schiffskategorien und führten zum Verlust von 64 Schiffen in den vergangenen fünf Jahren. Feuer ist auch die Ursache für die teuersten Schadenfälle. Das zeigt eine AGCS-Analyse von 250.000 Schadenfällen in der Schiffskasko- und Transportversicherung: Feuer verursachten 18 Prozent des Gesamtwertes aller analysierten Forderungen.
Brände beginnen oft im Frachtraum: Berichte der Branche führen rund ein Viertel der ernsten Vorfälle an Bord von Containerschiffen auf falsch deklarierte Gefahrengüter zurück, also etwa Chemikalien, Akkus oder Kohle. Gefährliche Fracht unzureichend zu kennzeichnen, zu dokumentieren und zu verpacken kann zu Großbränden führen und Löschmaßnahmen erschweren“, erklärt Anastasios Leonburg, früherer Kapitän und heute Marine Risk Consultant bei AGCS. „Fracht als Gefahrgut zu kennzeichnen ist teurer. Deshalb versuchen manche Unternehmen diese Kennzeichnung zu umgehen, indem sie Feuerwerk als Spielzeug oder Batterien als Computerteile ausgeben.“ Zahlreiche Reedereien setzen auf technologische Lösungen, um das Problem anzugehen. Dazu gehört etwa Software, die verdächtige Buchungen oder Frachtdetails entdeckt. Große Container-Reeder verhängen außerdem Strafen. „Einheitliche Anforderungen an die Kennzeichnung von Gefahrengütern und einheitliche Strafen für Verstöße wären ein Schritt in die richtige Richtung“, so Leonburg weiter.
Folge von Krieg und Öl-Sanktionen: Eine wachsende Schattentankerflotte als neue Gefahr
Über ein Jahr nach der russischen Invasion der Ukraine spürt die Schifffahrt weiter die Folgen. Das Risiko von Kollateralschäden in der zivilen Schifffahrt im Zusammenhang mit dem Krieg bleibt hoch, beispielsweise durch Seeminen.
Die verhängten Öl-Sanktionen haben zudem dazu geführt, dass Russland und seine Verbündeten eine Schattenflotte aus Tankern aufgebaut haben, um Öl transportieren und absetzen zu können. Die Größe der Flotte ist unklar, Schätzungen gehen von bis zu 600 Schiffen aus. „Es ist anzunehmen, dass die Flotte aus älteren Schiffen besteht, die unter solchen Flaggen fahren, die niedrigere Standards anlegen“, erklärt Justus Heinrich. „Diese wachsende Flotte sollte uns Sorgen bereiten, weil sie die Seeschifffahrt weltweit und auch die Umwelt gefährdet. Es genügt ein größerer Unfall, um Leben zu gefährden, die Umwelt zu schädigen oder unversicherte Schäden zu verursachen.“ Ein erster Vorfall ist bereits dokumentiert: Im Mai 2023 explodierte der 1997 gebaute, nicht versicherte und unbeladene Tanker Pablo in Südostasien.
Dekarbonisierung als größte Herausforderung der Branche
Die Schifffahrt verursacht jährlich rund drei Prozent der weltweiten Emissionen und hat sich selbst eine Reduzierung auferlegt. Wie schnell die Branche damit vorankommt, ist abhängig von technologischen Entwicklungen, dem Einsatz effizienterer Treibstoffe, Regulierung und Marktveränderungen. Manche Reedereien und Frachtbetriebe stellen ihre Schiffe bereits auf den Betrieb mit Erdgas oder alternativen Treibstoffen um oder testen solche – etwa Methanol, Ammoniak oder Wasserstoff. Eingesetzt werden ferner Solar- und batteriebetriebene Elektro-Schiffe, windunterstützte Antriebssysteme oder effizientere Schrauben und Wulstbuge.
Der Wandel hin zu einer klimafreundlichen Schifffahrt bringt zahlreiche Veränderungen mit sich und könnte bis zu 1,4 Billionen US-Dollar kosten. In den kommenden fünf bis zehn Jahren ist der Einsatz einer breiten Palette von Treibstoffen zu erwarten, was Herausforderungen für Reeder, Betreiber und Häfen mit sich bringt. Bisher hat dies noch zu keinem Anstieg der Schadenfälle geführt. Das kann sich allerdings ändern, wenn neuartige Antriebe und Treibstoffe im großen Maßstab zum Einsatz kommen. „Hier ist die Zusammenarbeit entscheidend: Informationen und Daten sollten zwischen Unternehmen und Versicherern ausgetauscht werden – von Tests bis zum Einsatz. Ein solches Vorgehen würde helfen, die Risiken dieser Übergangsphase zu senken“, so Anastasios Leonburg.
Wirtschaftlicher Druck ist zurück
Nach dem Post-Pandemie-Boom in der Containerschifffahrt führen nun ökonomische und geopolitische Unsicherheiten zu sinkender Nachfrage und fallenden Preisen: Der Preis für den Transport eines Containers von Asien in die USA oder nach Europa lag im April dieses Jahr über 80 Prozent unter dem Vorjahrespreis. „Für Versicherer stellt sich angesichts dieser Entwicklung die Frage, ob die fallenden Preise – verbunden mit einem möglichen wirtschaftlichen Abschwung – die Budgets für Wartung und Risikomanagement negativ beeinflussen könnten. Bei vergangenen Abschwüngen konnten wir einen solchen Zusammenhang durchaus beobachten. Sparmaßnahmen auf Kosten der Sicherheit können zu mehr Verlusten und einem Anstieg von Vorfällen, wie Maschinenschäden führen“, erläutert Heinrich.
Was die Schadenhöhe beeinflusst
Steigende Rohstoffpreise, höhere Lohnkosten und Störungen der Lieferketten haben einen erheblichen Einfluss auf Forderungen bei Schiffversicherungen. Das gilt insbesondere für Schiffskasko und Maschinenschäden. „Der Preis für Stahl – ein wesentlicher Treiber für Kaskoforderungen – hat sich nach der Pandemie stark erhöht, dasselbe gilt für Ersatzteile. Die Kosten eines normalen Schrauben- oder Maschinenschadens hat sich seit der Pandemie verdoppelt“, erklärt Justus Heinrich. „Lieferengpässe und Verzögerungen bei der Beschaffung von Ersatzteilen haben zudem zu längeren Liegezeiten in Reparaturwerften oder höheren Kosten durch teurere Lufttransporte – um die Reparatur zu beschleunigen – geführt. Zusätzlich treibt der Arbeitskräftemangel die Preise. Auch die zunehmende Zahl größerer Schiffe, die generell höhere Kosten bei Reparaturen, Bergungen oder Abschleppen verursachen, führt zu Preissteigerungen.“ Einen Einfluss hatte darüber hinaus der post-pandemische Boom in der Containerschifffahrt in der Hinsicht, dass der Frachtwert durch höhere Preise bei Gütern und Rohstoffen ebenfalls stieg.
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