10 Thesen von Kapitalmarktstratege Tilmann Galler: Nach Korrektur der Bewertungen und dank neuem Renditepotenzial freundlichere Aussichten

Kapitalmarktstratege Tilmann Galler von J.P. Morgan Asset Management erwartet im nächsten Jahr ein schwieriges makroökonomisches Umfeld. Er betont aber auch, dass dies nicht gleichbedeutend mit einem schwierigen Jahr an den Kapitalmärkten sein muss und erwartet vor allem bei Anleihen hoher Bonität gute Renditechancen. Seinen Ausblick für 2023 hat er in 10 Thesen zusammengefasst:

  1. Wachstum unter Trend – Rezession in Europa

Laut dem Ökonomen schwächt sich das Wachstum sukzessive ab und es wird im neuen Jahr – zumindest in Europa – zu einer Rezession kommen. „Eine Rezession in Europa sollte niemanden überraschen. Für die Aktienmärkte wird aber entscheidend sein, wie tief diese Rezession ausfällt; das ist die ‚große Unbekannte‘. Noch hat der Markt nur eine leichte Rezession oder sogar eine ‚weiche Landung‘ eingepreist“, erläutert Tilmann Galler. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, könnten die Unternehmen fast ohne Gewinnrückgänge durchkommen – aktuell sieht der Analysten-Konsens sogar noch steigende Gewinne vor. Auch wenn diese Erwartungen zurückgehen, sieht der Experte noch „einiges an Optimismus im Markt“, der weiter reduziert werden müsse.

Denn aufgrund der Inflation fallen die Reallöhne und das führt zu einer Kaufkraftkrise der Verbraucher. Zwar gibt es dank der ausgeprägten staatlichen Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Pandemie weiterhin einen Puffer, der den Konsum stützt. Aber in Europa drücken insbesondere die massiv gestiegenen Energie- und Strompreise die Verbraucherstimmung. Verbunden mit der Schwäche der Industrie wird dies der Treiber der erwarteten Rezession sein.

  1. Die Inflation in den USA und Europa geht deutlich zurück

Das neue Jahr startet laut Tilmann Galler in einem stagflationären Umfeld. Für 2023 ist aber zu erwarten, dass die Inflation nicht zur zurückgeht, sondern sich signifikant abschwächt – sie könnte sich nicht nur in den USA, sondern auch in Europa mehr als halbieren. Das wird ein wichtiges Signal für die Zentralbankpolitik sein.

Der Rückgang der Inflation wird beispielsweise durch das Ende der Angebotsengpässe getrieben. „Aktuell sehen wir, dass sich die Lager füllen und wir in Teilen des Gütermarkts sogar einen Angebotsüberhang beobachten können. Auch die Transportkosten auf den weltweiten Container-Routen sind im Vergleich zu ihren Höchstständen vor 14 Monaten um mehr als 80 Prozent gefallen. So dürfte in einigen bisher so inflationären Segmenten wie bei den Automobilen die Preise sogar wieder sinken, was disinflationär wirken sollte“, so Galler. Auch bei den Energiepreisen kann diese Entwicklung helfen, zudem dürften Basiseffekte unterstützend wirken, wenn der Ölpreis aufgrund der schwächeren konjunkturellen Lage im zweistelligen Bereich bleibt.

Tilmann Galler gibt allerdings zu bedenken: „Auch wenn sich die US-Inflation halbiert, ist diese weiterhin auf einem erhöhten Niveau von drei bis vier Prozent. Das wird die Zentralbanken weiter wachsam halten, insbesondere vor dem Hintergrund eines robusten Arbeitsmarktes.“ In den USA ist dieser immer noch sehr eng und die Lohnkosten sind weiter ein potenzieller Inflationstreiber.

  1. Die Zentralbanken pausieren – der Zinserhöhungszyklus endet

Wenn der Inflationsdruck weiter nachlässt, sollten die Zentralbanken bald am Ende ihres aktuellen Straffungszyklus angekommen sein. Noch ist es laut Tilmann Galler zu früh, das Leitzinshoch auszurufen. Denn die realen Zinsen sind weiterhin negativ und noch nie haben die Zentralbanken den Zinszyklus beendet, wenn die realen Leitzinsen noch negativ waren. Im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2023 erwartet der Ökonom allerdings, dass der Schnittpunkt zwischen Inflationsrate und Leitzins erreicht werden wird und dass der Zinserhöhungszyklus zumindest pausiert.

Die massiven Anpassungen auf dem Zinsmarkt haben laut Galler dazu beigetragen, dass sich die Renditen innerhalb kürzester Zeit wieder auf ein normales Niveau bewegt haben. „Dieser größte Anleihen-Crash seit Aufzeichnung der Daten hat dazu geführt, dass Anleihen inzwischen wieder eine attraktive Verzinsung bieten und eine sinnvolle Ergänzung des Werkzeugkastens für das Portfolio sind – das war in den letzten Jahren nicht so“, betont Tilmann Galler. Selbst Staatsanleihen sind wieder attraktiver geworden, nachdem die langfristigen Realrenditen von minus 2 Prozent im letzten Jahr auf 1 Prozent plus angestiegen sind. Dies gab es zuletzt vor 12 Jahren.

  1. Anleihenrenditen fallen

Der nachlassende Gegenwind weiter steigender Zinsen sollte im neuen Jahr von den Anleihenmärkten honoriert werden und die Invertierung der Zinsstrukturkurve zurückgehen. „Wenn die Märkte wieder eine unterstützende Zentralbankpolitik einpreisen, sollte die Invertierung beendet sein. Am langjährigen Ende besteht dennoch das größere Potenzial“, führt Galler aus. Er beruft sich auf die Faustregel, dass die kürzeren Laufzeiten näher an der aktuellen Inflation sind, während die längeren Laufzeiten auf das Wirtschaftswachstum insgesamt abzielen. Mit wachsenden Konjunktursorgen werden sich auch die Renditen der längeren Laufzeiten nach unten anpassen. So sei aus taktischer Sicht im nächsten Jahr die längere Duration attraktiv.

  1. Anleihen hoher Bonität schlagen High Yield

Nach der großen Korrektur an den Anleihenmärkten heißt es nun also „Bonds are back“. Allerdings sieht Tilmann Galler die Risikoaufschläge im Hochzinsbereich aktuell noch nicht auf ihrem Höchststand, sodass er angesichts der Rezessionsgefahr im nächsten Jahr eher Anleihen hoher Bonität („Investment Grade Bonds“) für sinnvoll hält.

  1. Anleihen hoher Bonität schlagen Aktien

Laut Tilmann Galler ist das aktuelle Renditeniveau verbunden mit der Aussicht auf fallende Zinsen so vielversprechend, dass für Unternehmensanleihen mit langer Laufzeit und hoher Bonität sogar zweistellige Renditen möglich sind. „Außerhalb eines Szenarios einer weichen Landung der Konjunktur werden es Aktien dementsprechend schwer haben Anleihen zu schlagen. Die Überbewertung von Aktien ist zwar nach den Kursverlusten im Jahr 2022 verschwunden, doch die künftige Ertragslage bleibt das große Fragezeichen.“ Neben Staats- und Unternehmensanleihen lohne es sich auch, einen Blick auf qualitativ hochwertige staatsnahe Emittenten, so genannte Agency Bonds, zu werfen. Wichtig ist für den Strategen aber sowohl bei Staats- als auch bei Unternehmensanleihen der Fokus auf gute Bonität

  1. Margen und Unternehmensgewinne fallen

Noch haben die Aktienmärkte für 2023 mit 3 Prozent Gewinnwachstum einen gewissen Optimismus eingepreist. Aber laut Tilmann Galler ist eine weitere negative Korrektur der Gewinnprognosen zu erwarten und die negativen Revisionen und Downgrades werden für eine gewisse Volatilität an den Märkten sorgen. „Im November war viel Erleichterung an den Märkten zu bemerken, dass die Zentralbankstraffungen weniger rigide werden. Aber die zyklischen Branchen, mit erwartetem Gewinnwachstum für 2023 von 14 Prozent bei Banken oder 18 Prozent für zyklische Konsumtitel, sind sehr anfällig für weitere Korrekturen, insbesondere wenn die Gewinnerwartungen der makroökonomischen Entwicklung angepasst werden“, unterstreicht Galler.

Der Stratege beobachtet zwei Dynamiken. So gingen 2022 die Margen zwar leicht nach unten. Trotzdem konnten die Unternehmen die Gewinne steigern, da sie einen großen Teil der Preissteigerungen an die Kunden weitergeben konnten. Das dürfte im nächsten Jahr schwieriger werden. Und auch wenn die Energiekosten mittelfristig sinken, bleibt der Kostendruck vor allem durch die Lohnkosten hoch. Gleichzeitig wird eine schwächere Nachfrage das Umsatzwachstum bremsen. Das wird die Margen der Unternehmen noch stärker als bisher unter Druck setzen und zu fallenden Gewinnen im nächsten Jahr führen.

  1. Value und Dividende übertreffen Growth

Tilmann Galler erwartet, dass die Substanzwerte gegenüber Wachstumstiteln auch 2023 strukturell weiter die Nase vorn haben sollten. „Auch wenn wir in diesem Jahr schon ein sehr gutes Value-Jahr hatten, sollte sich der Trend weiter fortsetzen – jedoch weniger spektakulär. Gerade im zyklischen Konsum sind die Gewinnerwartungen weiter zu hoch, hier sehen wir weiteren Korrekturbedarf, ebenso im IT-Sektor“, betont der Stratege. Vor allem zu Beginn des neuen Jahres sollte sich das Value-Segment hoher Qualität gut entwickeln, also Unternehmen mit stabilem Cashflow, hoher Rentabilität, niedriger Verschuldung und guten Ausschüttungen. Unternehmen mit Pricing-Power und solider Marktposition sind zu bevorzugen.

Im Verlauf des Jahres 2023 könne man sich aber auch darauf einstellen, dass sich an den Aktienmärkten das Umfeld für „Growth“ verbessert. „Wenn die Zentralbanken pausieren, gilt es den Blick nach vorne zu richten, auf die Zeit nach der Rezession zu setzen und auf die Zykliker zu gehen“, sagt Galler.

Unter dem Strich sollten aber Value- und Dividendentitel die Nase vorn haben. „Diesen traue ich mehr Gewinn- und Wachstumsstabilität zu als den Wachstumstiteln. Der Vorsprung ist nicht mehr so groß wie in diesem Jahr. Aber Wachstum ist immer noch teuer im Vergleich. Die Pandemieeuphorie wurde abgebaut, aber man ist noch nicht auf den langfristigen Durchschnittswerten angekommen. Die Fallhöhe ist also immer noch höher“, weiß der Ökonom.

  1. China beendet strikte Zero-COVID-Politik

Die Zero-COVID-Politik hat in China in diesem Jahr zu erheblichen Wachstumseinbußen geführt. Die Wirtschaft und insbesondere dem Immobilienmarkt droht eine Negativspirale, sollten die anhaltenden Lockdownmaßnahmen nicht ein nachhaltiges Ende finden. Die Entscheidungsträger in Peking haben aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeiten begonnen, einen Kurswechsel zu vollziehen, wodurch für die chinesische Wirtschaft eine baldige Erholung zu erwarten ist – es gibt viel aufgestaute Nachfrage. „Wir trauen China und der ganzen Region im nächsten Jahr eine bessere Wachstumsdynamik als den Industrieländern zu“, betont Galler.

  1. Schwellenländeraktien übertreffen Industrieländeraktien

Insgesamt sollten die Schwellenländer in den nächsten Monaten Auftrieb bekommen. Es gab viele negative Nachrichten, vor allem aus China, was sämtliche Emerging Markets mit nach unten gezogen hat. Bis zum nächsten Sommer sollte sich die Lage normalisieren und der Nachfragestau für eine Belebung an den Märkten sorgen. Das macht die Region zyklisch im nächsten Jahr interessant, auch sind die Bewertungen viel günstiger als in den Industrieländern. „Die Schwellenländer waren lange nicht so gut bewertet – nicht nur im Vergleich zu der restlichen Welt, sondern auch zur eigenen Historie. Es ist viel Pessimismus eingepreist“, betont Tilmann Galler. Aber die politischen Risiken in China erfordern auch eine höhere Risikoprämie. Der aufgebaute Discount dürfte also wahrscheinlich noch etwas länger Bestand haben. Deshalb sei China auch nicht ganz so attraktiv wie es auf den ersten Blick wirkt. „Dennoch trauen wir den Aktien der Region zu, im nächsten Jahr die Industrieländer bei der Performance zu übertreffen“, sagt Galler.

Und was erwartet der Marktstratege last but not least vom US-Dollar? Dank seines Status als Safe-Haven-Währung ist er jetzt schon auf dem Höchststand der letzten Jahre. „Wenn sich die geopolitische Lage entspannt, sollte der US-Dollar wieder an Stärke verlieren. Auch das wäre für leidgeprüfte Investoren in den Schwellenländern eine gute Nachricht“, so Tilmann Gallers Fazit.

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