Der Schifffahrtsboom führt zum Einsatz von Nicht-Containerschiffen zur Beförderung von Containern, einer verlängerten Nutzungsdauer von älteren Schiffen und zur Überlastung von Häfen weltweit.
Die internationale Schifffahrtsindustrie konnte auch im vergangenen Jahr ihren positiven Sicherheitstrend fortsetzen, steht aber vor einer Reihe von neuen Problemen infolge der Invasion Russlands in der Ukraine und der Überlastung von Häfen durch den weltweiten Transportboom. Die Lage der Besatzungen bleibt angespannt, auch wenn die Corona-Pandemie abebbt. Auch die Größe der Schiffe sowie anspruchsvolle Klimaschutzziele setzen die Schifffahrt unvermindert unter Handlungsdruck, so die Safety & Shipping Review 2022 des Versicherers Allianz Global Corporate & Specialty SE (AGCS).
„Der Schifffahrtssektor hat zuletzt eine enorme Widerstandsfähigkeit bei stürmischer See bewiesen, was durch den Boom, den wir heute in verschiedenen Teilen der Branche erleben, belegt wird“, sagt Justus Heinrich, Leiter der Schifffahrtsversicherung der AGCS in Zentral- und Osteuropa und Globaler Produktmanager für Schiffskasko der AGCS. „Die Totalverluste sind auf einem Rekordtief – etwa 50 bis 75 pro Jahr in den letzten vier Jahren, verglichen mit mehr als 200 pro Jahr noch in den 1990er Jahren. Die tragische Situation in der Ukraine hat jedoch zu weitreichenden Störungen im Schwarzen Meer und anderswo geführt. Dadurch haben sich die durch die Covid-19-Pandemie verursachten Probleme in den Lieferketten, bei der Überlastung der Häfen und der Besatzungskrise weiter verschärft. Gleichzeitig geben einige der Folgen des Schifffahrtsbooms, wie die Änderung der Nutzung oder die Verlängerung der Nutzungsdauer von Schiffen, Anlass zur Sorge.“
Die jährliche AGCS-Studie analysiert die gemeldeten Schiffsverluste und -unfälle über 100 Bruttotonnen. Im Jahr 2021 wurden weltweit 54 Totalverluste von Schiffen gemeldet, verglichen mit 65 im Jahr zuvor. Dies entspricht einem Rückgang von 57 % über 10 Jahre (127 im Jahr 2012), während Anfang der 1990er Jahre jährlich noch mehr als 200 Schiffe verloren gingen. Die Gesamtzahl der Verluste im Jahr 2021 ist umso beeindruckender, als weltweit heute schätzungsweise 130.000 Schiffe unterwegs sind, während es vor 30 Jahren noch 80.000 waren. Diese Fortschritte spiegeln die Weiterentwicklung der Sicherheitsmaßnahmen im Laufe der Zeit wider – durch Schulungen und Programme, verbesserte Schiffskonstruktionen, neue Technologien und verschärfte Vorschriften.
Dem Bericht zufolge gab es in den letzten zehn Jahren fast 900 Totalverluste (892). Die Seeregion Südchina, Indochina, Indonesien und die Philippinen ist der wichtigste globale Schaden-Hotspot, auf den jeder fünfte Schiffsuntergang im Jahr 2021 (12) und jeder vierte in den letzten zehn Jahren (225) entfällt. Als Ursachen gelten hohes Handelsaufkommen, überlastete Häfen, ältere Flotten und extreme Wetterbedingungen in der Region. Weltweit machen Frachtschiffe (27) die Hälfte der im letzten Jahr verlorenen Schiffe und 40 % in den letzten zehn Jahren aus. Das Sinken eines Schiffes war mit 60 % die Hauptursache für die Totalverluste im vergangenen Jahr (32).
Während die Totalverluste im vergangenen Jahr zurückgingen, stieg die Zahl der gemeldeten Schiffsunfälle. Auf den Britischen Inseln war die Zahl am höchsten (668 von 3.000). Mehr als jeder dritte Vorfall weltweit (1.311) war auf Maschinenschäden zurückzuführen, gefolgt von Kollisionen (222) und Bränden (178), wobei die Zahl der Brände um fast 10 % zunahm.
Auswirkungen des russischen Einmarsches in die Ukraine
Die Schifffahrtsbranche wurde durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt: durch den Verlust von Schiffen und Besatzungsmitgliedern im Schwarzen Meer, die Unterbrechung des Handels und die Erfüllung von Sanktionen. Zudem hat die Branche im täglichen Betrieb mit Auswirkungen auf die Besatzung, Treibstoffproblemen und potenziellen Cyberrisiken zu kämpfen.
Russische Seeleute machen etwas mehr als 10% der weltweit 1,89 Millionen Beschäftigten aus, während etwa 4 % aus der Ukraine stammen. Diese Seeleute könnten Schwierigkeiten haben, in ihre Heimat zurückzukehren oder nach Ablauf ihrer Verträge wieder auf die Schiffe zu kommen. Ein längerer Konflikt könnte zudem tiefgreifende Folgen für den globalen Handel mit Energie und anderen Rohstoffen haben. Ein erweitertes Verbot für russisches Öl könnte dazu beitragen, die Treibstoffe knapp und teurer werden, so dass Schiffseigner gezwungen sein könnten, alternative Treibstoffe zu verwenden. Wenn diese Kraftstoffe von minderwertiger Qualität sind, könnte dies potenziell zu Schäden an Maschinen führen. Gleichzeitig warnen die Sicherheitsbehörden weiterhin vor erhöhten Cyberrisiken für den Schifffahrtssektor, wie zum Beispiel GPS-Störungen oder Spoofing des automatischen Identifikationssystems (AIS).
Das wachsende Sanktionsregime gegen Russland stellt eine beträchtliche Herausforderung dar. Ein Verstoß gegen die Sanktionen kann schwerwiegende rechtliche Folgen und Strafen nach sich ziehen, gleichzeitig stellt die die Einhaltung der Sanktionen eine erhebliche Belastung dar. Es kann schwierig sein, den endgültigen Eigentümer eines Schiffes oder einer Fracht zu ermitteln. Die Sanktionen gelten auch für verschiedene Teile der Transportlieferkette, einschließlich Banken und Versicherungen, sowie für maritime Hilfsdienste – was ihre Einhaltung noch komplexer macht.
Brände an Bord
Im vergangenen Jahr führten Brände an Bord des Ro-Ro-Autotransporters Felicity Ace und des Containerschiffs X-Press Pearl zu Totalverlusten. Brände auf Frachtern sind ein zunehmendes Problem. Allein in den letzten fünf Jahren wurden über 70 Brände auf Containerschiffen gemeldet, heißt es in dem Bericht. Brände brechen häufig in Containern aus, was die Folge von nicht oder falsch deklarierter gefährlicher Ladung wie Chemikalien und Batterien sein kann – etwa 5 % der verschifften Container bestehen aus nicht deklarierten Gefahrgütern. Brände auf großen Schiffen können sich schnell ausbreiten und sind schwer unter Kontrolle zu bringen. Dies führt oft dazu, dass die Besatzung das Schiff verlassen muss und sich die Gesamtschäden eines Brandes erheblich erhöhen kann.
Brände sind gerade für Autofrachter kritisch. Sie können unter anderem in den Laderäumen beginnen – verursacht durch Fehlfunktionen oder elektrische Kurzschlüsse in den Fahrzeugen – und breiten sich auf den offenen Decks schnell aus. Die wachsende Zahl von Elektrofahrzeugen, die auf dem Seeweg transportiert werden, erhöht das Brandrisiko: Zum einen sind die Lithium-Ionen-Akkus hoch entzündlich, zum anderen können die vorhandenen Löscheinrichtungen ein schnell loderndes Feuer oft kaum eindämmen. Solche Brände können angesichts des Wertes der Fahrzeugladung, der Kosten für die Beseitigung des Wracks und der Eindämmung der Umweltverschmutzung teuer werden.
Große Schiffe stellen die Schifffahrt unverändert vor ebensolche Schwierigkeiten. Wenn sie in Seenot geraten, kann es schwierig sein, einen Nothafen zu finden. Es werden spezielle -Geräte, Schlepper, Kräne und Hafeneinrichtungen benötigt, was den Zeit- und Kostenaufwand für eine Bergung erhöht. Die X-Press Pearl sank, nachdem ihr aufgrund eines Brandes von zwei Häfen die Zuflucht verweigert wurde. Die Häfen waren nicht in der Lage oder nicht bereit, Salpetersäure aus einem lecken Tank zu entladen. Die Bergung des Autotransporters Golden Ray, der 2019 in den USA kenterte, dauerte fast zwei Jahre und kostete über 800 Millionen Dollar.
„Allzu oft endet ein eigentlich überschaubarer Zwischenfall auf einem großen Schiff in einem Totalverlust. Die Bergung ist ein wachsendes Problem. Umweltbelange tragen zu steigenden Bergungs- und Wrackbeseitigungskosten bei, da von Schiffseignern und Versicherern erwartet wird, dass sie zum Schutz der Umwelt und der lokalen Wirtschaft alles Mögliche tun“, sagt Anastasios Leonburg, Senior Marine Risk Consultant bei AGCS. „Früher wurde ein Wrack vielleicht an Ort und Stelle belassen, wenn es keine Gefahr für die Schifffahrt darstellte. Jetzt wollen die Behörden, dass die Wracks entfernt und die Meeresumwelt wiederhergestellt wird, auch wenn das sehr teuer wird.”
Höhere Bergungskosten sowie die Belastung durch größere Schäden im Allgemeinen müssen zunehmend von den Frachteigentümern und ihren Versicherern getragen werden. „Die ‘Havarie-Grosse’, das rechtliche Verfahren, bei dem die Ladungseigentümer anteilig an den Verlusten und den Kosten für die Rettung eines Schiffs beteiligt werden, ist zu einem häufigen und kostspieligen Versicherungsvorfall geworden. Denn die Zahl der großen Schiffe, die in Brände, Grundberührungen und Containerverluste auf See verwickelt sind, ist im Vergleich zu vor fünf Jahren gestiegen ist“, erklärt Rainer Bartzsch, Regionaler Schadenleiter für die Schifffahrtsversicherung der AGCS in Zentral- und Osteuropa. ‚Havarie-Grosse‘ wurde sowohl bei den Ever Forward- als auch bei den Ever Given-Vorfällen gemeldet.
Neue Herausforderungen nach der Pandemie
Zwar hatte die Covid-19-Pandemie nur wenige direkte Schäden für die Schifffahrtsversicherung zur Folge. Allerdings steht die Pandemie hinter vielen aktuellen Schwierigkeiten in der Branche, die Sicherheitsbedenken aufwerfen: die Besatzungskrise, den Transportboom und die Überlastung der Häfen. Die Nachfrage nach Crewmitgliedern ist hoch, doch viele qualifizierte und erfahrene Seeleute verlassen die Branche. Innerhalb von fünf Jahren wird ein ernsthafter Mangel an Offizieren prognostiziert. Bei den Seeleuten, die bleiben, ist die Arbeitsmoral niedrig, da der wirtschaftliche Druck, die Einhaltung von Vorschriften und die Arbeitsbelastung hoch sind. Eine solche Arbeitssituation erhöht die Fehlerneigung – 75 % der Zwischenfälle in der Schifffahrt sind auf menschliches Versagen zurückzuführen, wie eine AGCS-Analyse zeigt.
Der wirtschaftliche Aufschwung nach den Lockdowns hat zu einem Boom in der Schifffahrt geführt –Charter- und Frachtraten erreichen Rekordhöhen, zugleich sind Container Mangelware. Dies verleitet einige Reedereien dazu, Massengutfrachter, Produkttransporter oder Öltanker für den Containertransport einzusetzen oder den Umbau von Tankern zu erwägen. Eine solche Zweckentfremdung wirft Fragen hinsichtlich der Stabilität, der Brandbekämpfungsmöglichkeiten und der Ladungssicherung auf. Massengutfrachter und Tanker sind nicht für den Transport von Containern ausgelegt, weil ihre Manövriereigenschaften bei schlechtem Wetter beeinträchtigt sein könnte. Zudem ist die Besatzung möglicherweise nicht in der Lage, in kritischen Situationen richtig zu reagieren.
Da die Nachfrage nach Schiffen hoch ist, verlängern einige Eigner auch die Laufzeit ihrer Schiffe. Schon vor der Pandemie stieg das Durchschnittsalter der Schiffe an. Obwohl es viele gut geführte und gewartete Flotten mit Schiffen im Alter 15 bis 25 Jahren gibt, zeigen Analysen, dass ältere Container- und Frachtschiffe eher zu Schäden neigen, da sie unter Korrosion leiden und Systeme und Maschinen tendenziell häufiger ausfallen. Das Durchschnittsalter von Schiffen, die in den letzten zehn Jahren in einen Totalschaden verwickelt waren, liegt bei 28 Jahren.
Engpässe im Schiffsverkehr und Überlastung der Häfen
Derzeit erlebt die Schifffahrt eine noch nie dagewesene Überlastung der Häfen, die Crews, Hafenpersonal und Anlagen unter zusätzlichen Druck setzt. „Das Be- und Entladen von Schiffen ist ein besonders riskanter Vorgang, bei dem kleine Fehler große Folgen haben können. In stark frequentierten Containerhäfen gibt es nur wenig Platz, und erfahrene Arbeitskräfte, die für die ordnungsgemäße Abfertigung der Container erforderlich sind, sind rar. Wenn dann noch schnelle Umschlagzeiten hinzukommen, kann dies zu einem erhöhten Risiko führen”, erklärt Justus Heinrich.
Klimawandel: Probleme des Übergangs
Da die internationalen Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels an Dynamik gewinnen, gerät die Schifffahrtsbranche zunehmend unter Druck, klimafreundlicher zu werden. Die Treibhausgasemissionen sind zwischen 2012 und 2018 um rund 10 % gestiegen. Die Dekarbonisierung der Branche wird große Investitionen in grüne Technologien und alternative Kraftstoffe erfordern. Eine wachsende Zahl von Schiffen stellt bereits auf Flüssigerdgas (LNG) um, während andere alternative Kraftstoffe in der Entwicklung sind, darunter Ammoniak, Wasserstoff und Methanol sowie elektrisch betriebene Schiffe. Der Einsatz alternativer Kraftstoffe geht unter anderem mit einem erhöhten Risiko von Maschinenausfällen in der Übergangsphase einher.
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