Von Markus Hansen, Portfoliomanager bei Vontobel Asset Management:

 

Europäische Aktien hinken ihren Pendants aus den USA seit der globalen Finanzkrise deutlich hinterher. Mit 41,5 Prozent im MSCI All Country World Index ex US belastet Europa internationale Portfolios. Das war jedoch nicht immer so. Vor der Krise wiesen Europa und die USA jahrzehntelang eine einheitliche Entwicklung auf. Unserer Einschätzung nach sprechen viele Gründe für eine künftige Verbesserung der relativen Performance von Europa:

Der Next Generation EU-Fonds und andere Reformen haben Risiken gemindert

Die COVID-19-Krise hat die Europäische Union (EU) in humanitärer und wirtschaftlicher Hinsicht auf die Probe gestellt, beschleunigte aber auch ihr Wiedererstarken. Anders als in der früheren Krise hat die EU dieses Mal jedoch erkannt, dass es notwendig ist, wirksame geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zu verknüpfen. In den vergangenen zwölf Monaten ist der Next Generation EU (NGEU) entstanden, der erste EU-weite über Anleihen finanzierte Wiederaufbaufonds, der eine Ausweitung der Ausgaben zum Zwecke der Konjunkturerholung und Krisenbewältigung vorsieht. Der NGEU mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro strebt Ausgaben von 1,8 Billionen Euro an, was ungefähr 12 Prozent des EU-BIP entspricht. Dieses dringend benötigte Programm ist nicht nur ambitioniert, sondern für die EU auch etwas ganz Neues. Ziel ist es, die Wirtschaft zu beleben, die Anlagetätigkeit bezüglich neuer Technologien und erneuerbarer Energien zu fördern und das Vertrauen in den europäischen Binnenmarkt zu wecken.

Dem NGEU kommt allerdings eine weitaus wichtigere Bedeutung zu, als lediglich Anreize als Reaktion auf die gegenwärtige rückläufige Entwicklung zu schaffen. Der Fonds dürfte in Kombination mit anderen Reformen, die während und nach der globalen Finanzkrise und der Schuldenkrise in der EU umgesetzt wurden (Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, Banken-Stresstests, höhere Kapitalquoten), dafür sorgen, dass künftige Krisen keine solch existenzielle Tragweite mehr haben.

Erhöhtes Engagement in schneller wachsenden Unternehmen

Der MSCI Europe Index sieht heute völlig anders aus als noch während der Finanzkrise. Dies ist das Ergebnis einer jahrelangen Underperformance von Value-Titeln, die an Gewicht verloren haben. Zudem strebten neue Unternehmen in dynamischere Bereiche der europäischen Märkte.

Zwar hinkt Europa im Tech-Bereich den USA immer noch hinterher, das Engagement beläuft sich aber mittlerweile auf über 8 Prozent, während  das Engagement in Banken ist auf 7,51 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig können wir weitere Veränderungen feststellen, zum Beispiel ein deutlich geringeres Engagement in den volatilen Energie- und Finanzsektoren und der wachstumsschwachen Versorgungsbranche. Neben dem schnell wachsenden Technologiesektor ist Europa nun stärker im höherwertigen Basiskonsumgüter- und im zyklischen Konsumgütersektor sowie im Gesundheits- und Industriesektor engagiert. Unserer Auffassung nach verfügt Europa derzeit über ein größeres Engagement in schnell wachsenden, höherwertigen Unternehmen bei besserer Ausgewogenheit als in der Vergangenheit.

Bewertungen sind relativ attraktiv

Nach einem Jahrzehnt der Underperformance sind unseres Erachtens die Bewertungen in Europa attraktiver als in den USA. Dies trifft auch nach Bereinigung um das Sektorenengagement zu. Das heißt, die bessere Bewertung ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Bewertungen in den USA höher ausfallen, weil dort mehr Technologieunternehmen und weniger Banken vertreten sind.

Rückkehr der Inflation dürfte sich auf europäische Unternehmen nicht auswirken

Die Zeiten der niedrigen Inflation, die seit der globalen Finanzkrise viele europäische Länder belastet hatte, könnten nun vorbei sein. Davon betroffen waren nicht nur Rohstoffhersteller, sondern auch eine Vielzahl europäischer Unternehmen. In Europa sind viele geschichtsträchtige Marken angesiedelt, die bei steigenden Kosten eine Preissetzungsmacht haben. Reguläre Preissteigerungen lassen allerdings seit der Finanzkrise auf sich warten. Für diejenigen, die steigende Kosten an den Verbraucher weitergeben können, selbst wenn diese nur gering ausfallen, wäre eine neuerliche Inflation durchaus positiv für die Geschäftsentwicklung. Wer sich einen Ferrari leistet, macht sich nichts daraus, wenn der Preis um ein paar Prozent steigt. Auch dem Käufer einer Nespresso-Maschine dürfte dies egal sein.

Erwartungen an gesteigertes Ertragswachstum

Anders als in den USA, wo die Erträge ihr Niveaus vor der Globalen Finanzkrise übertreffen, liegen sie in Europa darunter. Mit der Verbesserung der Benchmark und der Umsetzung von Reformen dürften die Erträge in Europa zukünftig jedoch nicht länger hinterherhinken. Die Gewinnprognosen sagen aktuell interessanterweise genau dies voraus.

Europa als Vorreiter im ESG-Bereich 

Welche Fortschritte Europa im Bereich ESG gemacht hat, zeigt sich auch an externen Ratings, unseren Gesprächen mit Unternehmen und dem Anlegerinteresse in verschiedenen Regionen. Dies ist wichtig, da Unternehmen, die noch nicht wissen, wie sie mit Themen umgehen, die über die reine Finanzproblematik hinausgehen, letztlich ihre Investitionen erhöhen und Geschäftsprozesse ausbauen müssen. Zudem nehmen auch Anleger in anderen Regionen nicht mehr nur die Finanzkennzahlen in den Blick. ESG-Scores werden sich daher zunehmend in den Bewertungen niederschlagen. Und hier kann sich Europa erneut hervortun.

Alles spricht für eine Allokation in europäische Aktien

In Europa ist nicht alles perfekt. Doch das ist es nirgends. Unserer Einschätzung nach dürften Probleme, die in den letzten zehn Jahren die Entwicklung Europas beeinträchtgt haben, an Bedeutung verlieren. Unseres Erachtens ist der Index aus schneller wachsenden Unternehmen von höherer Qualität zusammengesetzt und der Markt relativ attraktiv bewertet. Anleger, die sich die letzten zwölf Jahre ansehen und zu dem Schluss kommen, dass die Zukunft der unmittelbaren Vergangenheit gleichen dürfte, würden mit Europa in gewisser Weise eine Gegenwette eingehen – also auf die USA setzen. Blickt man aber weiter in die Vergangenheit und bedenkt man die fundamentalen Veränderungen, die in Europa in jüngster Zeit stattgefunden haben, und das zunehmende Anlegerinteresse für ESG-Faktoren, lässt sich feststellen, dass Anleger Europa zu ihrem eigenen finanziellen Schaden übersehen.

 

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