Es geht ein Aufschrei durch die Kassenlandschaft.

 

Auslöser sind die unlängst vom Bundeskabinett beschlossenen Maßnahmen zur Einhaltung der Sozialgarantie 2021. Als Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) tituliert soll es die Beitragsbelastung bis nach der Bundestagswahl unter 40 Prozent halten. Es sieht vor, einen absehbaren, zusätzlichen Finanzbedarf im Gesundheitswesen bis Ende 2021 von bis zu 16,6 Milliarden Euro für die Corona-Pandemie zu mehr als zwei Dritteln aus den früheren und künftigen Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen zu bestreiten. Lediglich fünf Milliarden Euro sollen aus dem Staatssäckel kommen. „Der Großteil soll mit acht Milliarden Euro aus den Reserven der Krankenkassen entzogen und in den Gesundheitsfonds abgezweigt werden“, erklärt Thomas Adolph vom führenden Vergleichsportal www.gesetzlichekrankenkassen.de. „Weitere drei Milliarden sollen die Kassenmitglieder über höhere Zusatzbeiträge zahlen.“ Das widerspricht wie der GKV-Spitzenverband betont, den früheren Vereinbarungen: „Konkret wurde zugesichert, dass die Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen der „Sozialgarantie 2021“ bei maximal 40 Prozent stabilisiert werden, indem darüber hinaus gehende Finanzbedarfe aus dem Bundeshaushalt gedeckt würden.“

Der politische Aderlass: Rücklagen werden zwangsabgeführt

Der Griff in die Kassenfinanzen ist möglich, weil die Anbieter zwar rechtlich selbstständige und vom Staat weitgehend unabhängige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung sind“, erläutert Kassenexperte Adolph. „Sie sind aber an gesetzliche Vorgaben gebunden, die das Gesundheitsministerium ändern kann.“ Mit dem GPVG sollen die Kassen jetzt verpflichtet werden, 66 Prozent ihrer Reserven abzugeben. Die Zwangsabgabe greift allerdings erst, wenn die Rücklagen mehr als 0,4 Monatsausgaben betragen. Mit momentan 20,6 Milliarden Euro halten die Anbieter im Schnitt eine knappe Monatsausgabe vor. Wie der Verband der Innungskrankenkassen berichtet, geht das BMG aber von falschen Annahmen aus. Die vorläufigen Finanzergebnisse zum Stand 30. Juni 2020 enthalten noch nicht das zwischen BMG und GKV abgestimmte Defizit des zweiten Halbjahres von rund 4,3 Milliarden Euro außen vor. Realistisch betrachtet werden bei den Krankenkassen Ende des Jahres nur noch rund 16 Milliarden Euro an Rücklagen haben. Trotzdem sollen acht Milliarden Euro Rücklagen in der GKV umgewidmet werden müssen“, sagt Thomas Adolph vom führenden Vergleichsportal www.gesetzlichekrankenkassen.de. „Kassen sind je nach ihrer Satzung gehalten, eine Rücklage zwischen 0,2 (gesetzliche Mindestrücklage) und einer Monatsausgabe (Höchstrücklage) zu halten“, erklärt der Kassenexperte. „Die genaue Dotierung konnten bisher Vorstand und Verwaltungsrat jedes Anbieters autonom festlegen.“ Damit nicht genug wird eine Kasse den kassenindividuellen Zusatzbeitrag nur noch erhöhen dürfen, wenn sie im letzten Quartalsergebnis weniger als vier Fünftel einer Monatsreserve auf der hohen Kante hatte.

Fadenscheinige Politik: Zusatzbeitrag soll im Wahljahr nur moderat steigen

„Gesetzliche Krankenversicherung wird finanziell stabilisiert“ überschreibt das Bundesgesundheitsministerium sein Projekt. Kritiker halten das für blanke Ironie, stabilisiert werde nur das Außenbild des politischen Establishments. „Die Zusatzbeiträge werden im Wahljahr nur gebremst steigen. Die Koalition besorgt sich das Geld stattdessen bei den Kassen“, schreibt die Fachpresse selten kritisch. Ergänzend weist ein Insider auf reitschuster.de darauf hin, dass es coronabedingte Einsparungen nur auf dem Papier gebe. „Im zweiten Halbjahr 2020 dürften aufgeschobene Behandlungen größtenteils nachgeholt werden“. „Zeitgleich sinken durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit die Kasseneinnahmen“, ergänzt Adolph. Beschlossene Sache ist, dass im kommenden Jahr die Zusatzbeiträge steigen werden – der rein rechnerische „durchschnitteliche Zusatzbeitrag“ aller Kassen zusammen wird um 0,2 Prozentpunkte erhöht. Damit werden sie im Schnitt bei 1,3 Prozent liegen, sagt der Experte von www.gesetzlichekrankenkassen.de. Ohne den Transfer aus den Kassen-Rücklagen hätten die Zusatzbeiträge dreimal so stark steigen müssen. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung anmerkt, stimmt nicht einmal die Gesamtbelastung (2021) von 39,95 Prozent, für die das Maßnahmenpaket sorgen soll. Es fehle der Zusatzbeitrag für Kinderlose in der Pflegeversicherung, der die tatsächliche Belastung auf 40,2 Prozent – und damit über die Höchstgrenze – bringt.

Breiter Widerstand: Arbeitgeber und Gewerkschaften werfen Spahn Ruchlosigkeit vor

Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gehen auf die Barrikaden. „Die Politik handelt, als ob es kein Morgen gäbe“ schimpft BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Er vermisst einen Bezug auf die Sozialgarantie, die der Koalitionsausschuss im Juni gegeben hatte. Kampeter zufolge sei damals zugesagt worden, die Begrenzung der Beitragsbelastung auf 40 Prozent solle mit Zuschüssen des Bundes erreicht werden. Jetzt solle sie „dagegen vor allem dadurch erreicht werden, dass vorhandene Rücklagen erfolgreicher Krankenkassen auf andere Kassen verteilt werden“. Für ihn ist das ein „Vertrauensbruch gegenüber den Beitragszahlern“, da die aufgelösten Rücklagen in den Folgejahren fehlen und nicht mehr zur Begrenzung von Zusatzbeiträgen zur Verfügung stehen. Für die Arbeitnehmerseite warf Anja Piel vom DGB-Bundesvorstand Spahn vor, die Reserven der gesetzlichen Krankenkassen zu plündern. Am Ende müssten die Beitragszahler für die Krise aufkommen – und nicht, wie versprochen, alle Steuerzahler. Das sei völlig inakzeptabel. Seuchenschutz und die Bewältigung von Pandemiefolgen seien keine Kassenleistung, sondern eine Staatsaufgabe, die aus Steuermitteln zu bezahlen sei.  Piel beklagte, dass die Politik etliche Kassen bewusst in Schieflage bringt. „Das macht nur, wer eigentlich einen vollständig liberalisierten Kassen-Wettbewerb und eine Neuordnung der Krankenkassenlandschaft beabsichtigt. Das ist ein Schlag ins Gesicht der sozialen Selbstverwaltung, die in Krisenzeiten dafür gesorgt hat, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre Aufgaben unbürokratisch und flexibel erbringen.“

Unisono empört: Kassenverbände beklagen Bevormundung und Aderlass

Die Kassenverbände sehen sich nach konstruktiven Gesprächen im Vorfeld jetzt in Gefahr, über den Tisch gezogen zu werden. „Die vorgesehene Abführung von acht Milliarden Euro aus dem Vermögen der einzelnen Krankenkassen stellt einen massiven Eingriff in die Finanzautonomie der selbstverwalteten gesetzlichen Krankenversicherung dar“, kritisieren die Verwaltungsratsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes. Laut Uwe Klemens und Volker Hansen werde ein fatales Signal an die Krankenkassen gesendet, die Rücklagen in rechtlich zulässiger und wirtschaftlich vorausschauender Weise gebildet hätten. Beide forderten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dringend auf, den vorgelegten Entwurf in wesentlichen Punkten nachzubessern, um eine nachhaltige finanzielle und strukturelle Schwächung der gesetzlichen Kassen zu verhindern.

Die Innungskrankenkassen (IKK e.V.) fordern eine deutliche Korrektur. „Die Selbstverwaltung in der GKV hat in der heißen Phase der Corona-Pandemie alles für die Sicherstellung und Aufrechterhaltung der Versorgung getan“, betont deren Vorstandsvorsitzender Hans-Jürgen Müller. „Dabei wurden durch den Rückgriff auf den Gesundheitsfonds auch gesamtgesellschaftliche Aufgaben vorfinanziert.“ Durch die jetzt beschlossenen Maßnahmen würden diese Mehraufwendungen einfach den GKV- Versicherten und Arbeitgebern aufgebürdet. Das sei in diesem Ausmaß nicht hinnehmbar, selbst wenn ein moderater Rückgriff auf Kassenvermögen diskutiert werden könne.

Auch der AOK-Bundesverband übt heftige Kritik. Volker Hansen und Knut Lambertin zufolge sei es eine Farce, diese Pläne einen „kassenübergreifenden Solidarausgleich“ zu nennen. „Bei Licht besehen ist dieser Mix aus Entwendung von Beitragsgeldern, Erhöhung des Zusatzbeitrages und Verschärfung der Anhebungsverbotsgrenze für Zusatzbeiträge das glatte Gegenteil: Das Vertrauen der Versicherten und Arbeitgeber in die Politik wird ausgehöhlt, der Solidargedanken in der GKV beschädigt und die Selbstverwaltung entmündigt.“ An einem angemessenen Bundeszuschuss zugunsten der Beitragszahler führe kein Weg vorbei, denn jetzt sei zwingend ein gesamtgesellschaftlicher Ausgleich für die Solidarität der Beitragszahler erforderlich.

Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbandes e.V. hatte nach „konstruktiven Gesprächen zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen und dem BMG“ eine andere Lösung erwartet. „Dies ist nichts weniger als eine Sozialisierung eines Teils der Beiträge der gesetzlich Versicherten und ihrer Arbeitgeber in Deutschland.“ Knieps zufolge benötigen die gesetzlichen Krankenkassen ausreichend Rücklagen, um für die absehbar anstehenden Herausforderungen und die Gestaltung einer pandemiefesten Struktur unseres Gesundheitssystems gewappnet zu sein. Dies gelte besonders für kleinere und mittelgroße Kassen, die durch teure Leistungsfälle und Ausgabenschwankungen stark belastet sein können. „Ein solider Schwellenwert, der Extremschwankungen bei Einnahmen und Ausgaben trägt, sollte mindestens drei Viertel einer Monatsausgabe betragen“, fordert Sigrid König, Vorstand des BKK Landesverbandes Bayern. Zudem sei zu berücksichtigen, dass kleinere Krankenkassen für eine solide Finanzgrundlage höhere Rücklagen vorhalten müssen.

Ungerecht und unberechtigt: Pandemie-Bekämpfung ist keine Kassenleistung

Demnach würden die Kassen nicht nur leistungsfremd – der Corona-Mehraufwand ist ja nicht allein auf notwendige Behandlungen zurückzuführen – sondern auch noch unterschiedlich behandelt, da die Anbieter unterschiedlich hohe Reserven gebildet haben. Adolph: „Kassen mit hohen Rücklagen werden stärker belastet als die anderen.“ Zudem gehe ein Großteil der fehlenden Milliarden auf versicherungsfremde Leistungen wie Massentestungen, zusätzliche Intensivbetten oder eine Einkommensgarantie für Ärzte zurück. „Man hat sich pandemiebedingte Coronakosten – also Ausgaben, die der Steuerzahler zu tragen hat – zunächst über die GKV finanzieren lassen und will jetzt den selbstverständlichen Ausgleich über Steuern schuldig bleiben“, urteilt Sigrid König, Vorstand des BKK Landesverbandes Bayern. Der CDU-Gesundheitspolitiker Alexander Krauß klagte bereits in der Ärztezeitung: „Jetzt werden jene Krankenkassen ausgeplündert, die solide gewirtschaftet haben.“ Besonders betroffen seien offenbar AOK plus (Sachsen und Thüringen) und die Techniker Krankenkasse. “Das sei Sozialismus und eine Bestrafung der Kassen, die für Krisen vorgesorgt hätten”, schreibt Anno Fricke in der Ärztezeitung betont kritisch. Der Kommentar seines Kollegen Florian Staeck setzt noch einen oben drauf. „Der Acht-Milliarden-Handstreich wird sich ins kollektive Gedächtnis der Kassenmanager einbrennen. Auch dann noch, wenn die Pandemie zum Glück Vergangenheit sein wird.“

 

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