Kommentar von Chefökonom Shamik Dhar

 

Während Covid-19 weiterhin unser tägliches Leben auf der ganzen Welt beeinflusst, umreißt Shamik Dhar, Chefökonom bei BNY Mellon Investment Management (Foto anbei), seine Erwartungen an eine globale wirtschaftliche Erholung:

„Jenseits der unmittelbaren Auswirkungen von Covid-19 erwarten wir, dass Anleger Risiken möglichst vermeiden werden, bis am Markt mehr Klarheit herrscht. Ein starker Aufschwung ist möglich, aber noch ist nicht abzusehen, ob der im Idealfall mögliche Gewinn die im schlimmsten Fall zu erwartenden Verluste aufwiegen kann.

Aus wirtschaftlicher Sicht erleben wir einen Angebotsschock und einen Nachfrageschock zur selben Zeit. Das Angebot nimmt ab, weil die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden sinkt und Lieferketten unterbrochen werden. Die Nachfrage bricht weg, weil die Menschen nicht einkaufen gehen können, weniger Dienstleistungen konsumieren und nicht in den Urlaub fahren können.

Aktuell sehen wir zwei wahrscheinlichere Szenarien (V- und U-Szenario) sowie zwei weniger wahrscheinliche (L-Szenario und Inflation).

V-Szenario: Keine dauerhaften Verluste

Eine Entwicklung, bei der sich Covid-19 weltweit ausbreitet, aber die wirtschaftlichen Auswirkungen begrenzt bleiben, ist optimistisch, aber nicht unmöglich. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen V-förmigen Erholung veranschlagen wir aktuell mit etwa 35%. In diesem Szenario erreicht das Virus im Sommer seinen Höhepunkt und die Liquiditätsrückstellungen der Zentralbanken sind groß genug, um schwere Verwerfungen an den Finanzmärkten zu verhindern. Dann könnte auch das globale Wachstum in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 wieder anziehen und sich die Produktion erholen, so dass das Wachstum in der ersten Hälfte des Jahres 2021 in die Größenordnung vorrückt, die es ohne das Auftreten der Krankheit erreicht hätte – ohne dauerhafte Produktionsverluste.

U-Szenario: Weit verbreitete Risikoaversion bremst Erholung

Das zweite Szenario ist eine U-förmige Erholung, bei der die Ausbreitung von Covid-19 anhaltender und flächendeckender wäre als im ersten Szenario. Eine derartige Entwicklung halten wir für ebenso wahrscheinlich wie ein V. Die Wirtschaft wäre in erster Linie von einem weltweiten Nachfrageeinbruch betroffen, nicht von einer Angebotsverknappung. Angesichts der erhöhten Unsicherheit wäre die Risikoabneigung weit verbreitet. Risikoprämien würden stark ansteigen, Aktien und Anleihen dagegen fallen – insbesondere bei Unternehmen mit hohem Fremdkapitalanteil. Eine dramatische Flucht in sichere Werte würde die Renditen von Staatsanleihen auf bisher undenkbare Tiefstände und für manche Weltregionen noch weiter in den negativen Bereich drücken. Zuvor aber würde die enorme Nachfrage nach Bargeld vorübergehend einige Renditen steigen lassen. Die resultierenden Liquiditätsengpässe und eine Dollarknappheit würden zu schweren Marktverwerfungen führen. Die globalen Entscheidungsträger wären nicht in der Lage, den kurzfristigen Stimmungseinbruch zu bremsen. Der Ausverkauf könnte einen Abschwung ähnlich dem Abschwung nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000/2001 auslösen. Auch damals folgte eine Erholung in U-Form.

L-Szenario: Stagnation und Protektionismus

Weniger wahrscheinlich ist mit lediglich 20% aus unserer Sicht eine Phase der Stagnation oder einen langsamen Aufwärtstrend nach dem Absturz. In diesem L-förmigen Szenario gerät die wirtschaftliche Aktivität in den vom Virus betroffenen Regionen ins Stocken. Die Auswirkungen auf Nachfrage und Angebot 2020 sind mit fast 18% massiv, vor allem in der ersten Hälfte des Jahres, und wirken sich auf das chinesische BIP aus. Europa und die USA sehen für den Rest des Jahres 2020 ähnlich hohe BIP-Verluste. Das erhöht den Druck auf Unternehmen, ihre Lieferketten längerfristig zu diversifizieren, was dem Trend zur De-Globalisierung in die Hände spielt. Unternehmen suchen nach Alternativen zur chinesischen Produktion, finden sie aber nicht immer. Die USA, die EU und China reagieren mit protektionistischen Maßnahmen, insbesondere wenn China versucht, den Yuan abzuwerten, was den Angebotsschock noch weiter verschärft.

Inflationsszenario: Überschießende US-Wirtschaft

In diesem Szenario plagen die USA übertriebene Wachstumssorgen. Das Virus ist eingedämmt, die Wirtschaft ist robust und kehrt zu ihrem Aufwärtstrend aus der Vor-Corona-Zeit zurück. Da aber die Schwäche der übrigen Welt anhält, steht die US-Wirtschaft vor einem Ressourcen-Engpass. Die Inflation steigt stärker als erwartet an und überschreitet Anfang 2021 das 2%-Ziel der Fed. Die Inflationserwartungen steigen schnell und deutlich an und zwingen die Fed zu einer Straffung, da China und andere Länder schwächer werden. Höhere Zinsen und der Dollarkurs führen zu einer Kapitalflucht aus risikoreichen Anlagen, insbesondere in den Schwellenländern. Es kommt zu finanzieller Instabilität und Dollarknappheit, verstärkt über die internationalen Finanzmärkte. Das Szenario wäre eine Wiederholung der Situation 2015/2016, aber in größerem Maßstab. Dieses Szenario ist aber wohl am wenigsten wahrscheinlich – wir geben ihm nicht mehr als 10%.“

 

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