Indien wird als die nächste globale Wachstumsstory gehandelt.
Mit einem dynamischen IT- und Dienstleistungssektor, einer günstigen demografischen Entwicklung und einem politischen System, das dem Westen ähnlicher ist als zum Beispiel das chinesische, spricht einiges dafür. Könnte also der Dienstleistungssektor Indien einen ähnlichen Schub geben, wie es die Produktion in China getan hat? Erik Lueth, Global Emerging Market Economist bei Legal & General Investment Management, ist skeptisch:
„Für die langfristigen Wachstumsaussichten eines Landes schauen wir immer zuerst auf das verarbeitende Gewerbe. Dieser Sektor hat es in Indien schwer, wie unten dargestellt. Sein Anteil am BIP ist nicht nur niedriger als in anderen Ländern mit vergleichbarem Entwicklungsstand, sondern er schrumpft sogar.
Warum ist das verarbeitende Gewerbe so wichtig für die Entwicklung eines Landes?
- Erstens sind die Produktivitätsgewinne im verarbeitenden Gewerbe größer als im Dienstleistungssektor oder in der Landwirtschaft.
- Zweitens sind Produktionsgüter handelbar. Durch den Verkauf auf den Weltmärkten konkurrieren die Länder mit den Besten, was sie dazu anregt, sich an die technologische Spitze zu bewegen.
- Drittens kann der Sektor große Mengen ungelernter Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft absorbieren und so die Gesamtproduktivität fast über Nacht steigern. Diese Eigenschaften haben dem verarbeitenden Gewerbe den Beinamen “Eskalationssektor” eingebracht.
Indiens Regierung ist sich dessen bewusst. Im September 2014 startete die Regierung von Narendra Modi ihre “Make in India”-Kampagne mit dem Ziel, den Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP des Landes bis 2022 (später auf 2025 korrigiert) auf 25 Prozent zu erhöhen. Im April 2020 folgte das “Production Linked Incentive (PLI)”-Programm, das ausländische Unternehmen anlocken und die einheimische Produktion in 14 Schlüsselsektoren fördern soll.
Dank des technischen Fortschritts sind einige Dienstleistungen in den letzten Jahrzehnten dem verarbeitenden Gewerbe immer ähnlicher geworden. Diese Dienstleistungen sind zunehmend handelbar und hochproduktiv. Indien zeichnet sich durch diese Art von Dienstleistungen aus – dazu gehören etwa IT-Dienstleistungen oder das Outsourcing von Geschäftsprozessen (BPO). Könnte Indien also dementsprechend die Entwicklungsphase der verarbeitenden Industrie einfach überspringen? Die meisten Meinungen, die Indien als „das nächste China“ preisen, konzentrieren sich auf diese hochwertigen Dienstleistungssektoren.
Dienstleistungen vs. Arbeitsplätze
Dabei gibt es allerdings ein Problem: In diesen Sektoren sind nicht viele Menschen beschäftigt. So entfallen auf IT- und BPO-Dienstleistungen nur etwas mehr als ein Prozent der indischen Erwerbsbevölkerung.
Es ist unwahrscheinlich, dass die hochproduktiven Dienstleistungen in nächster Zeit viele Menschen beschäftigen werden. Sie sind sehr qualifikationsintensiv, und diese Qualifikationen sind in der breiten indischen Erwerbsbevölkerung nicht vorhanden. Anders ausgedrückt: Man kann ganze Landstriche in Fabriken umwandeln und so die Produktivität in kürzester Zeit steigern. Man kann jedoch nicht massenweise Bauern in Anwaltskanzleien, Banken und Arztpraxen unterbringen. Ohne das Potenzial, viele Menschen zu beschäftigen, ist es unwahrscheinlich, dass hochwertige Dienstleistungen einen solchen Wandel herbeiführen können, wie es das verarbeitende Gewerbe in Südkorea, Taiwan oder China getan hat.
Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der dynamischsten Sektoren Indiens und dem Überfluss an ungelernten Arbeitskräften zeigt sich in der Jugendarbeitslosenquote. Wie wir unten sehen können, ist die Jugendarbeitslosigkeit in Indien höher als in anderen asiatischen Ländern mit einem ähnlichen Pro-Kopf-BIP – und sie steigt weiter.
Bisher wurden alle Wachstumswunder vom verarbeitenden Gewerbe angetrieben – die einzigen Ausnahmen sind rohstoffbedingte Wachstumsschübe. Wir glauben zwar gerne an die transformative Kraft des indischen Dienstleistungssektors, aber die Beweislast spricht dagegen. Indiens größte Hoffnungen ruhen wahrscheinlich immer noch auf dem verarbeitenden Gewerbe.“
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