Noch nicht der Zeitpunkt für „Augen-zu-und-kaufen“-Strategie
Schon vor dem Krieg in der Ukraine versprach 2022 ein schwieriges Jahr für die Zentralbanken zu werden. Die Inflation stieg auf den höchsten Stand seit über 40 Jahren und das reale Wirtschaftswachstum verlor merklich an Fahrt. Doch die Wachstumskräfte schienen noch zu stark für das denkbar ungünstigste Szenario für einen Zentralbanker – die Stagflation. Nach Einschätzung von Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management, ist nun das Risiko einer Stagflation zurück, so dass die Notenbanken eine schwierige Entscheidung treffen müssen: Ist das Risiko einer Rezession oder einer eskalierenden Inflation das geringere Übel? Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland und der Ukraine spielen dabei eine entscheidende Rolle – und könnten die US-Notenbank Fed sowie die EZB zu unterschiedlichen Handlungen veranlassen.
Wirtschaftswachstum in USA und Europa unterschiedlich betroffen von Ukrainekrieg
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Rahmenbedingungen seit Anfang des Jahres schlagartig verändert. „Die Zerstörungen in der Ukraine und die umfangreichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland treiben die Energie- und Lebensmittelpreise nach oben und vergrößern die Sorge über Angebotsengpässe in zahlreichen Industrien. Zentralbanken stehen jetzt vor dem Dilemma, dass sich der Preisauftrieb verschärft und gleichzeitig die Wachstumsaussichten verschlechtern“, stellt Ökonom Galler fest. In dieser schwierigen Situation müssten die Notenbanken eine Einschätzung treffen, ob das Augenmerk eher auf das Thema Rezession oder die Inflation gerichtet werde.
Dem Ukrainekrieg dürfte mit Blick auf den Wachstumspfad der beiden Wirtschaftsblöcke USA und Europa eine entscheidende Rolle zukommen. Trotz Rückgang seit der Krimkrise 2014 war Europa Ende 2021 mit knapp 36 Prozent Anteil am russischen Handelsvolumen immer noch der wichtigste Handelspartner, während der Anteil der USA lediglich 4,4 Prozent betrug. „Schon hier wird deutlich, dass Europa durch die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland und den weiteren Verlauf des Konflikts stärker betroffen ist als die USA“, erklärt Tilmann Galler. Auch was die Sicherheit der Energieversorgung betreffe, gebe es erhebliche Unterschiede. Während die USA quasi Selbstversorger seien herrsche eine große Abhängigkeit in der EU von russischen Gas- und Rohöllieferungen.
Rezessionsrisiko in Europa steigt, in den USA dürfte Inflation das größere Übel sein
Der historische Absturz des ZEW-Konjunkturbarometers für Deutschland im März ist nach Ansicht von Marktexperte Galler ein erstes Warnsignal für das immer größer werdende Rezessionsrisiko auf dem Kontinent: „Die fragile konjunkturelle Lage in der Eurozone trägt dazu bei, dass die EZB in ihren Erwägungen über zukünftige Zinserhöhungen den Wachstumsrisiken wohl mehr Beachtung schenken wird. Die Zinswende wird – zumindest ohne eine schnelle Deeskalation in der Ukraine – im Gegensatz zu den USA in diesem Jahr noch etwas auf sich warten lassen“, analysiert Galler.
Der Preiseauftrieb war sowohl in Europa als auch in den USA schon vor Kriegsausbruch ausgeprägt. Die US-Verbraucherpreise sind nun im März um 8,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen – der höchste Stand seit Dezember 1981 –, wobei der Preisanstieg bei Gütern und Dienstleistungen inzwischen Energie als Haupttreiber der Inflation abgelöst hat. Das spreche nach Meinung von Tilmann Galler für ein deutlich strukturelleres Inflationsgeschehen. Die Arbeitslosenquote ist in den USA im März mit 3,6 Prozent nahe der Vollbeschäftigung und die Anzahl der offenen Stellen übertrifft die Anzahl der Arbeitslosen um 5 Millionen. Selten zuvor in den letzten Jahrzehnten sei die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer für höhere Löhne besser als heute gewesen: In den letzten drei Monaten sind die Nominallöhne bereits um 5,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. „Die Gefahr einer einsetzenden Lohn-Preisspirale ist groß, falls es der US-Fed nicht gelingt, durch Leitzinserhöhungen die Inflationserwartungen zu dämpfen“, erklärt Galler.
„Aufgrund der aktuell geringeren Rezessionsgefahr ist für die US-Notenbank die Inflation das vorerst größere Übel, weshalb wir die nächsten Monate eine stetige Anhebung der Leitzinsen erwarten. Das birgt jedoch die Gefahr, dass bei einer weiteren Eskalation der Krise in Osteuropa und weiter steigenden Rohstoffpreisen das Zinsumfeld für eine dann doch stärker schwächelnde US-Wirtschaft zu restriktiv sein könnte“, führt Tilmann Galler weiter aus. Sollte die Fed in den nächsten Monaten zusätzlich eine Bilanzreduktion von 95 Milliarden US-Dollar pro Monat beschließen, könnte eine Verknappung der US-Dollar-Liquidität parallel zu den Zinserhöhungen in der jetzigen Phase der Unsicherheit und Risikoaversion im ungünstigen Fall zu erheblichem Stress auf den Finanzierungsmärkten führen.
Noch nicht der Zeitpunkt für eine „Augen-zu-und-kaufen“-Strategie
Durch die jüngsten Kursrückgänge sind Aktien- und Credit-Märkte nach Ansicht von Tilmann Galler attraktiver geworden, sie hätten aber noch keine Krisenbewertung erreicht, die zu einer „Augen-zu-und-kaufen“-Strategie einladen. „Die Unwägbarkeiten des Krieges in der Ukraine und die Konjunkturrisiken lassen für die kommenden Monate anhaltend volatile Märkte erwarten, weshalb eine gute Balance zwischen risikoarmen und risikoreichen Kapitalanlagen geboten ist“, fasst Galler zusammen.
Tilmann Galler, Executive Director, CEFA/CFA, arbeitet als globaler Kapitalmarktstratege für die deutschsprachigen Länder bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt. Als Teil des globalen „Market Insights“-Teams erstellt und analysiert er auf Basis von umfangreichem Research Informationen rund um die globalen Finanzmärkte und leitet Implikationen für Investmentstrategien ab. Er verfügt über 20 Jahre Berufserfahrung in der Finanzbranche und war zuvor unter anderem auch als Portfolio Manager tätig. www.jpmorganassetmanagement.de/deu/marketinsights
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