Kommentar von Nadège Dufossé, Leiterin Multi Asset bei Candriam
Nadège Dufossé, Global Head of Multi Asset bei Candriam, kommentiert die aktuellen Geschehnisse im Russland-Ukraine-Krieg und erklärt aus heutiger Sicht ein mögliches Szenario und dessen Auswirkungen auf Wirtschaft und Investments.
Die aktuellen Sanktionen und ihre Folgen
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in ein „Worst-Case“-Szenario geraten, bei dem sich harte Sanktionen gegen Russland auf den Energiesektor auswirken, hat zwar zugenommen. Doch bis auf weiteres ist beabsichtigt, die Sanktionen gegen Russland eng zu begrenzen, um die russischen Rohstoffexporte nicht direkt zu beeinträchtigen. Die Vereinigten Staaten und Europa versuchen, sich mit SWIFT abzustimmen, um Wege zur Identifizierung von Energietransaktionen im System zu finden und bestimmte Banken auszunehmen, um das Störungspotenzial zu begrenzen. Dies könnte sich jedoch als heikles Unterfangen erweisen… und Russland könnte leicht eskalieren, indem es seine Energielieferungen nach Europa unterbricht.
Unser Makro-Szenario für die Eurozone
Die russische Wirtschaft dürfte von den neuen Sanktionen stark betroffen sein: Zusätzlich zu einem möglichen Vertrauensschock hat die russische Zentralbank (CBR) ihren Leitzins von 9,5 auf 20 Prozent angehoben, um den Abzug von Einlagen zu verlangsamen und der Abwertung des Rubels entgegenzuwirken – der Rubel hat seit Mitte Februar gegenüber dem Dollar bereits 30 Prozent an Wert verloren. Die CBR hat auch beschlossen, einige Kapitalkontrollen einzuführen, insbesondere ein vorübergehendes Verbot für Ausländer, Wertpapiere zu verkaufen.
Weiterhin wird die Krise die Normalisierung der Lieferketten verzögern. Denn die Ukraine liefert mehr als 90 Prozent des Neons für US-Halbleiter, und fast 50 Prozent des Palladiums, eines seltenen Metalls, das ebenfalls für Halbleiter verwendet wird, wird aus Russland bezogen. Zusätzlich werden die Energiepreise höher sein als noch vor einigen Monaten erwartet. Angesichts dessen hat Italien bereits ein 8-Milliarden-Euro-Hilfspaket zur Entlastung des Energie- und Automobilsektors beschlossen, während Deutschland eine Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben zugesagt hat. Wenn sich die Spannungen auf dem Energiemarkt nicht wesentlich verschärfen, könnte das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im Euroraum 2022 immer noch über 3,5 Prozent liegen, aber die Risiken deuten noch weiter nach unten. Angesichts der hohen Inflation wird sich die Aufgabe der Zentralbank als heikler Balanceakt erweisen, aber angesichts der Wachstumsrisiken wird die Europäische Zentralbank bei der Änderung ihres geldpolitischen Kurses wahrscheinlich vorsichtiger sein.
Welche Risiken sind derzeit auf den Finanzmärkten eingepreist?
Die Volatilität an den Aktienmärkten hat insbesondere in Europa einen Höchststand erreicht. Das spiegelt den Stress wider, der mit dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine verbunden ist: Denn das ist ein Ereignis, das Anfang Februar noch unwahrscheinlich schien. Was die absolute Höhe der Volatilität anbelangt, so haben wir noch nicht die Spitzenwerte erreicht, die man von großen Krisen kennt, und die ein Zeichen für die Kapitulation der Finanzmärkte wären.
Wo stehen wir?
Die Aktienindizes haben seit Anfang des Jahres Korrekturen erfahren, die jedoch uneinheitlich ausfielen. Seit dem 1. März hat die Eurozone rund 15 Prozent verloren, der amerikanische Markt 10 Prozent, während der FTSE100 (Vereinigtes Königreich) nahezu stabil ist. Die Zinssätze sind nach einer relativ ruhigen Woche am Dienstag, dem 1. März, stark gesunken, insbesondere in Europa, was darauf hindeutet, dass wir in eine deutlichere Phase des Risikoabbaus eintreten. Bei den Rohstoffen schließlich, Hauptüberträger der Ansteckung unserer Volkswirtschaften durch die Krise, ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Nordsee-Öl erreichte neue Höchststände, Industriemetalle und Agrarrohstoffe steigen, und Gold wird seiner Rolle als sicherer Hafen gerecht.
Welches Szenario erwarten wir?
Die Dinge ändern sich sehr schnell, und bis zu dieser Woche konnte man sagen, dass die Märkte mit einer recht schnellen Lösung des Konflikts rechneten, ohne größere Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaften. Jetzt sind wir an einem Wendepunkt angelangt: Einerseits profitiert der US-Markt relativ gesehen vom Rückgang der Zinssätze und den moderateren Erwartungen einer kurzfristigen Straffung der Geldpolitik durch die Fed. Dies kommt Wachstumswerten und defensiven Titeln zugute, die sich besser entwickeln dürften. Andererseits bewerten wir die Auswirkungen der Sanktionen mit der Sorge vor einem Energieschock, der das Wachstum sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten behindern würde. Die in den letzten Tagen beobachtete Volatilität spiegelt die Unsicherheit über die Folgen dieses Krieges wider: die Dauer des militärischen Konflikts, der Energieschock und die Sanktionen, wobei die Situation bis heute relativ binär geblieben ist.
Bewaffnete Konflikte haben keine dauerhaften und signifikanten Auswirkungen auf die Märkte, es sei denn, sie führen zu einer Energiekrise… was heute im Raum steht.
Wie haben wir unsere diversifizierten Portfolios seit Beginn des Krieges angepasst?
Anfang Februar haben wir unser Engagement in Aktien reduziert, indem wir den Grad der Absicherung in unseren Portfolios erhöht haben. Wir steuern das Aktienexposure aktiv, indem wir uns für einen potenziell binären Ausgang dieser Krise positionieren und dabei sowohl Aufwärts- als auch Abwärtsrisiken berücksichtigen. Wir haben unser Engagement in Gold und in bestimmten Währungen wie dem US-Dollar, dem Yen und dem Schweizer Franken erhöht. Wir erhöhten auch unser Engagement in Rohstoffen (Bergbau und US-Ölsektor) und reduzierten unsere Positionen in Finanzwerten, dem seit Anfang Februar am stärksten betroffenen Sektor. Wir behalten einen flexiblen und pragmatischen Ansatz bei, bis wir mehr Klarheit über den Ausgang des Krieges haben.
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