Prognosen sind immer unsicher, und im Moment mehr denn je.
Das hat mehrere Gründe – etwa die Pandemie, die politische Reaktion darauf, Lieferengpässe und eine sich ankündigende Vollbeschäftigung. Die USA und einige andere Volkswirtschaften könnten schon einen späteren Punkt im Konjunkturzyklus erreicht haben als bisher angenommen. Und last but not least könnte die hohe Inflation sich verfestigen – auch dann müsste die Politik eine Antwort finden, sagt Emiel van den Heiligenberg, Head of Asset Allocation bei Legal & General Investment Management (LGIM):
Unsicherheitsfaktor 1: Inflation
Die Inflation ist die Haupt-Unsicherheit und beeinflusst die Politik der Zentralbanken. Während sie um das angemessene Straffungstempo ringen, steigt die Gefahr geldpolitischer Fehler. Im Moment erleben wir eine ungewöhnliche Kombination: Es wird ein Ansteigen der Inflation erwartet, während wir gleichzeitig unter einem offensichtlichen Arbeitskräftemangel leiden. Diese angespannte Situation könnte die Zentralbanken verunsichern.
Wir gehen davon aus, dass die Inflation sehr bald ihren Höchststand erreicht. Doch das Risiko weiterer Preissteigerungen bleibt. In Europa erwarten wir weniger Lohndruck und rechnen deshalb am wenigsten mit einer anhaltenden Lohninflation. Zudem ist die Inflation – aktuell auf dem höchsten Stand seit 2014 – bereits weitgehend eingepreist. Kurz: Die Risiken sind hoch, aber auch bekannt. Bei Bedarf dürften die Zentralbanken umschwenken, so dass wir in der Frage der Inflation leichter mittelfristige Aussagen treffen können als zum Zinsniveau. Im Fall enttäuschender Wachstumsraten und Kursverzerrungen angesichts der aktuellen Bewertungen funktioniert das aus unserer Sicht gut.
Preisschocks sind der Mechanismus, mit dem der Markt entweder das Angebot ausweitet oder die Nachfrage drosselt. Lässt man solche Mechanismen ungestört laufen, so bringen sie die Märkte wieder ins Gleichgewicht – zum Beispiel indem sie Nachfrage aus den Energiemärkten nehmen oder den Anreiz steigern, in die Halbleiterindustrie zu investieren. Steigt allerdings die erwartete Inflation immer schneller, so kann sie die relativen Preissignale aufheben. Dann wird es schwierig festzustellen, an welchem Punkt die die gesunde Anpassung weit genug gegangen ist.
Unsicherheitsfaktor 2: Wirtschaftswachstum
Auch die Wachstumsaussichten bleiben zwar ungewiss, aber wir erwarten für 2022 ein Wachstum über dem allgemeinen Trend in den Industrieländern. Gründe sind die Erholung von der Pandemie und eine Stärkung des Dienstleistungssektors. Es geht also um inflationäres Wachstum, nicht um Stagflation. Ein unterschätztes Risiko ist unserer Meinung nach die Möglichkeit, dass der Konjunkturzyklus schon weiter fortgeschritten sein könnte – darauf deuten jedenfalls die jüngsten Bewegungen der Vermögenspreise hin. Das ist unserer Meinung nach zwar nicht das wahrscheinlichste Szenario, aber es ist trotzdem auffällig, dass niemand darüber spricht.
Unsicherheitsfaktor 3: China
Schwer vorherzusagen sind auch die Entwicklungen in China. Bisher gehen wir davon aus, dass das schwächere Wachstum keine allzu großen Auswirkungen auf die Kapitalmärkte in den Industrieländern hat. Das könnte sich jedoch ändern, wenn die Krise des Immobiliensektors oder neue Corona-Wellen einen Kreditschock auslösen. Aus unserer Sicht sind Anleger überdies zu optimistisch und versprechen sich zu viel von Chinas Null-Toleranz-Politik gegen Corona. Wahrscheinlich ist ein strukturell niedrigeres Konjunkturwachstum, jedoch nicht unter 4%. Insgesamt hat die Unsicherheit in China zugenommen: Da sich das Land vor allem auf den Abbau der Verschuldung konzentriert, steigt die Gefahr politischer Fehler – ebenso wie eine Kreditkrise infolge von Zahlungsunfähigkeit im Immobiliensektor.
Unsicherheitsfaktor 4: Politik
Last but not least: Nächstes Jahr wird das Augenmerk erneut auf wichtigen politischen Ereignissen liegen. Dazu zählen die französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr und die Zwischenwahlen zum US-Kongress, bei denen die Republikaner als Favorit gehandelt werden, so dass wir für die nächsten zwei Jahre wohl nicht mit US-Konjunkturpaketen rechnen sollten. 2022 wird auch in Ungarn (definitiv) und in Polen (wahrscheinlich) gewählt, was den Konflikt mit der EU lebendig halten wird. Im Frühjahr 2023 wählt dann Italien – und in Italien besteht eigentlich immer ein Wahlrisiko.
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