Virtuelle HVs: kein echter Dialog zwischen Unternehmen und Aktionären – Vergütungssysteme für Vorstände verbessern
Der deutsche Fondsverband BVI zieht ein ernüchterndes Fazit zur Hauptversammlungssaison 2021. „Der Dialog zwischen Eigentümern und Verwaltung der Unternehmen war wie 2020 faktisch unmöglich. Die virtuellen Treffen auf Basis der COVID-19-Notgesetzgebung haben die Hauptversammlung als oberstes Kontrollorgan und Sprachrohr der Aktionäre spürbar entwertet“, sagt Thomas Richter, BVI-Hauptgeschäftsführer. Nach einer Untersuchung des Fondsverbands haben lediglich ein Drittel von den im HDAX vertretenen 160 Aktiengesellschaften die Reden des Vorstands vorab veröffentlicht. DAX30-Unternehmen schnitten besser ab als die im MDAX und SDAX vertretenen Gesellschaften. Nur 25 der 160 im HDAX vertretenen Unternehmen ermöglichten ihren Aktionären, im Vorfeld der Hauptversammlung (HV) Sprach- oder Videobotschaften auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen, ohne dass diese in der HV berücksichtigt wurden. Lediglich neun Unternehmen haben ihren Aktionären in der HV eine Nachfragemöglichkeit zu deren im Vorfeld schriftlich eingereichten Fragen gewährt. Keine Gesellschaft erlaubte ihren Aktionären während der HV spontane Fragen. Allein die Deutsche Bank gestand ihren Aktionären ein Rederecht in der HV zu.
Unternehmen müssen mehr als gesetzliche Mindestanforderungen bieten
Mit einer Fortsetzung der teils erheblichen Einschränkungen für Aktionäre ist mindestens bis zum 31. August 2022 zu rechnen, da der Bundestag im September einer Verlängerung der Corona-Notfallgesetzgebung auch für die Hauptversammlungssaison im kommenden Jahr unverändert zugestimmt hat. Der BVI hat dies insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der pandemischen Lage kritisiert, da in nahezu allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen schon heute Grundrechtseinschränkungen entschärft oder zurückgenommen werden. „Die Unternehmen werden für die anstehende Diskussion um eine Reform des Hauptversammlungsrechts noch einmal die Chance haben, bei ihren virtuellen Aktionärstreffen mehr als nur die gesetzlichen Mindestanforderungen zu erfüllen. Was wir künftig aber wieder auf Hauptversammlungen brauchen, ist ein echter Dialog zwischen Aktionären und Unternehmensleitung“, fordert Richter. Der Erhalt der sogenannten Generaldebatte, wie sie aus der Präsenzhauptversammlung bekannt ist, muss deshalb eine zentrale Rolle spielen. „Die Aktionärsrechte dürfen wie in den letzten beiden Jahren nicht mehr vom Format einer Hauptversammlung abhängig gemacht werden“, erläutert Richter. „Hybride Hauptversammlungsformate könnten hier eine gute Lösung für die Zukunft sein.“ Sie ermöglichen einerseits den direkten Dialog zwischen Aktionären und Unternehmen. Gleichzeitig bieten sie aber auch die Möglichkeit zur virtuellen Teilnahme, um zum Beispiel die Aktionärsbeteiligung zu stärken.
Fast die Hälfte der Unternehmen hat Verbesserungspotenzial bei Vergütungssystem für den Vorstand
Neben der Einschränkung der Aktionärsrechte gab es auch bei der Qualität der Beschlussvorlagen auf HVs gravierende Beanstandungen. Einer der häufigsten Anlässe zur Kritik war die Vorstandsvergütung. Unternehmen müssen die Vergütungssysteme gegenüber Investoren offenlegen und regelmäßig zur Abstimmung stellen. Bei 72 von 160 Gesellschaften entsprachen die zur Abstimmung gestellten Vergütungssysteme nicht den Vorstellungen der Fondsbranche zu einer guten Unternehmensführung. Das ist ein Ergebnis einer weiteren Untersuchung der Hauptversammlungssaison 2021 auf Basis der Analyse-Leitlinien (ALHV) des BVI, die der Fondsverband mit Unterstützung des Aktionärsdienstleisters IVOX Glass Lewis bei 160 Unternehmen der DAX-Familie (DAX30, MDAX und SDAX) erstellt hat. Die ALHV geben zudem Eckpunkte für zum Beispiel die Wahl des Aufsichtsrats (u. a. Altersgrenze, Zahl von Mandaten, Unabhängigkeit) und dessen Entlastung (u. a. Interessenkonflikte, Abstimmung über Vergütungssysteme) vor. Hierbei hat sich die Zahl der kritischen Fälle gegenüber dem Vorjahr jedoch kaum verändert.
Lesebeispiel zum Punkt „Entlastung des Aufsichtsrats“: Von den 160 untersuchten Unternehmen hätte laut den ALHV in dieser Hauptversammlungssaison 82 Gesellschaften die Entlastung verweigert werden können.
Über die Analyse-Leitlinien des BVI
Die Analyse-Leitlinien des BVI für Hauptversammlungen (ALHV) stellen Eckpunkte für eine gute Unternehmensführung aus Sicht des BVI dar. Sie machen Fondsgesellschaften keine verbindliche Vorgabe für das jeweilige Abstimmungsverhalten auf der Hauptversammlung, sind in der Branche inzwischen aber zum Mindeststandard geworden. Die Mitglieder des BVI halten in ihren Fonds Aktien deutscher Unternehmen im Wert von 215 Milliarden Euro. Dabei agieren die Fondsgesellschaften als Treuhänder ihrer Anleger gegenüber diesen Unternehmen und üben die Aktionärsrechte in deren Interesse aus. Sie orientieren sich dabei an anerkannten Branchenstandards wie den Wohlverhaltensregeln des BVI.
Der BVI untersucht jährlich mit Unterstützung des Aktionärsdienstleisters IVOX Glass Lewis die abgelaufene Hauptversammlungssaison auf Einhaltung der ALHV. Konkret werden die 160 Unternehmen der DAX-Familie (DAX, MDAX und SDAX) überprüft.
Verantwortlich für den Inhalt:
BVI Bundesverband Investment und AssetManagement e.V., Eschenheimer Anlage 28, D-60318 Frankfurt/Main, Tel.: 069/1540900, Fax: 069/5971406, www.bvi.de