Kommentar von Michel Salden, Head of Commodities bei Vontobel Asset Management
Überall auf der Welt bestehen derzeit massive Energieengpässe. Rückblickend ist kaum noch vorstellbar, dass Öl-Terminkontrakte im April 2020 wegen einer pandemiebedingt eingebrochenen Nachfrage zu negativen Preisen gehandelt wurden. Seit die Weltwirtschaft sich im vergangenen Jahr wieder geöffnet hat, steigt die Energienachfrage nun jedoch so schnell, dass die Schaffung neuer Produktionskapazitäten nicht mithalten kann.
In den letzten zwölf Monaten haben wir massive Preissteigerungen bei Öl (+100 Prozent), Kohle (+350 Prozent), deutschem Strom (+400 Prozent), US-Gas (+95 Prozent) und EU-Gas (+590 Prozent) beobachtet. Die Rally der Energiepreise beschränkt sich also nicht auf den Ölsektor, in dem die OPEC die Märkte strukturell unterversorgt hält und die globalen Ölvorräte erfolgreich unter ein Fünf-Jahres-Tief gedrückt hat. Auch bei anderen Energieträgern steigt die Nachfrage stetig – bei anhaltend schwachem Angebot. So ist beispielsweise in China der Stromverbrauch gegenüber 2020 um 15 Prozent gestiegen, während die Förderung von Kohle als Hauptenergiequelle im Vorjahresvergleich um 10 Prozent zurückgegangen ist. Im Gegensatz zum Westen, der sich von Kohle abwendet, setzen die indische und die chinesische Volkswirtschaft weiter vorwiegend auf diesen Energieträger: So wird in beiden Ländern etwa 60 bis 70 Prozent der gesamten Energienachfrage durch Kohle gedeckt. Verschiedene Grubenunglücke, Überschwemmungen und Stilllegungen haben Anfang des Jahres zu einem ersten Energieschock in Asien geführt. Angesichts einer akuten Verknappung der Kohlevorräte liegen die chinesischen Erzeugerpreise im Vorjahresvergleich daher um 10 Prozent höher. Dies erklärt auch, warum die meisten asiatischen Länder von Kohle auf Gas umstellen mussten, um den drohenden Energieengpässen in der kommenden Wintersaison entgegenzuwirken. Ferner haben die asiatischen Akteure damit begonnen, für jede weltweit verfügbare Flüssiggaslieferung (LNG) hohe Preise zu bieten und zu überbieten, um Gasströme von Europa nach Asien umzulenken.
Europa stärker unter Druck als Asien
In Europa hat man sich dagegen mit der Füllung der Gasspeicher schwergetan. Bereits im März dieses Jahres war die Situation angespannt. Grund war ein später Kälteeinbruch, der dazu geführt hat, dass die europäischen Gasspeicher im Sommer ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau gefüllt werden mussten. Zudem löste der außergewöhnlich heiße Sommer in Südeuropa einen hohen Kühlbedarf aus, der die Gasspeicher langsam, aber sicher leerte. Auch die Produktion von Wind- und Solarenergie war im Sommer starken Schwankungen unterworfen. Dies verhinderte eine substantielle Aufstockung der europäischen Gasreserven vor dem Winter. Weiter verschärft wurde die Problematik durch ESG-fokussierte politische Maßnahmen, die die europäische Gasproduktion seit 2017 um über 20 Prozent sinken ließen. Heute liegen die europäischen Gasvorräte noch immer 20 Prozent unter dem üblichen Niveau. Wir erwarten, dass bis Ende des Monats die ersten Entnahmen aus den Gasspeichern erfolgen.
Der europäische Energiesektor hat sich auf die Energiewende eingestellt – weg von fossilen Brennstoffen und hin zu den erneuerbaren energieträgern. Dabei wurde es aber versäumt, in ausreichende Reservekapazitäten wie Atomkraft, Gas, Öl zu investieren, während die Speicherkapazitäten für erneuerbare Energie weiterhin begrenzt sind. Darüber hinaus hat ein Jahrzehnt der sinkenden Gaspreise möglicherweise zu einer gewissen Sorglosigkeit geführt: Die europäischen Energieerzeuger gingen fälschlicherweise davon aus, dass sie keine langfristigen Gaslieferverträge mehr benötigen und Angebotslücken stattdessen am Spot-Markt überbrücken können. Daher stehen sie den aktuellen Preissprüngen nun ohne Absicherung gegenüber und sind anfälliger für höhere Kosten und volatile Spot-Preise. Europa verbessert also erfolgreich seine CO2-Bilanz, ist jedoch auch in der schwächsten Position, um mit künftigen Energieschocks umzugehen, und muss wohl für viele Jahre mit volatilen Energiepreisen leben.
Russland
Für die Politik liegt es nahe, Russland für die Gasknappheit verantwortlich zu machen. Zwar lagen die russischen Gaslieferungen in den letzten Wochen unter dem Durchschnitt, doch tatsächlich hat Russland das höchste Fördervolumen in einem mehrjährigen Zeitraum erreicht und alle langfristigen Lieferverträge eingehalten. Allerdings hat es am Spot-Markt keinerlei zusätzliche Kapazitäten gebucht. Dies könnte dem Ziel geschuldet sein, den Druck auf die EU zu erhöhen, damit diese endlich die Pipeline Nordstream 2 freigibt. Eine weitere Motivation könnte jedoch auch darin bestehen, dass Russland die heimischen Speicher füllen will, da es im vergangenen Jahr einen sehr kalten Winter erlebt hat.
Die künftige Entwicklung der Energiemärkte hängt vom Wetter ab
Die Jahreszeit mit der höchsten Energienachfrage rückt rasch näher. Es bleiben nur noch wenige Wochen, um die Gasspeicher aufzufüllen. Eine Möglichkeit dafür wären höhere russische Gaslieferungen über die Pipeline Nordstream 2. Sobald die Pipeline mit voller Kapazität läuft (5,3 Mrd. Kubikfuß pro Tag), werden die europäischen Gasmärkte entlastet. Die Preise könnten sofort um 30 Prozent fallen. Es ist jedoch offen, ob die EU den Betrieb der Pipeline mit voller Kapazität vor Januar 2022 genehmigen wird. Da Gas, Kohle und Strom um ein Vielfaches über dem Preis von Öl gehandelt werden, wird zudem Gas durch Öl und Kohle ersetzt: Die Energieversorger verbrennen billiges Öl und sogar Kohle, um Strom zu erzeugen, obwohl dies eine höhere CO2-Belastung mit sich bringt.
Die Frage, ob die Reserven bis zum, am oder gar vor dem Höhepunkt der Heizsaison im Winter erschöpft sein werden und ob es zu weiteren Preissprüngen kommt, hängt vor allem vom Wetter ab. In Europa und den USA hat ein ungewöhnlich warmer Winter die Gasreserven in der Vergangenheit bisweilen vor einem Stresstest bewahrt. Ist es zum Beispiel bis Jahresende nur ein Grad wärmer als üblich, könnten die Gasspeicher weiter gefüllt werden und die Preise würden sich normalisieren. Bei normalen oder gar ungewöhnlich tiefen Temperaturen könnte dagegen nur ein weiterer Nachfrageeinbruch der Energieknappheit entgegenwirken. So hat vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung an den Energiemärkten bereits das Herunterfahren von europäischen Aluminium-, Zink- und Metallhütten sowie von Chemie- und Düngemittelwerken begonnen. Mehr noch: Energieintensive Betriebe könnten in Europa dauerhaft stillgelegt werden. Zudem könnten Menschen zeitweise gezwungen sein, wegen der Energieknappheit weniger zu heizen.
Auf der anstehenden UN-Klimakonferenz (COP26) könnten die politischen Entscheidungsträger mehr Klarheit darüber schaffen, wie sie mit der Energiepreisinflation umgehen wollen, und erörtern, wie die globalen CO2-Pläne künftige Energieschocks verhindern können. Es dürfte eine spannende Debatte werden, da die höheren Energiepreise bereits als Vorlage zur Begründung politischer Maßnahmen benutzt werden – von den einen, um die europäische Energiewende zu beschleunigen, von den anderen, um vor einer übereilten Energiewende zu warnen. Beide Sichtweisen verdienen es, ernst genommen zu werden. Und sämtliche Energiemärkte senden deutliche Signale, dass wir dringend eine Balance finden müssen, um einen von Stagflation geprägten Konjunkturzyklus zu verhindern.
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