J.P. Morgan Asset Management: Die „unvollständige“ Erholung

 

Nach der historisch einzigartig schnellen Erholung an den Märkten stellt sich laut Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt, nun die Frage, ob die V-förmige Entwicklung der Aktienmärkte eine Blaupause für die konjunkturelle Entwicklung darstellen könnte. Darüber hinaus rücken in den nächsten Wochen allmählich auch die US-Wahlen im November in das Blickfeld mit ihren möglichen politischen Implikationen für die Märkte. Rund um die Vorstellung des „Guide to the Markets“ für das 3. Quartal 2020 analysiert Tilmann Galler diese Fragen und wirft einen Blick auf die Situation an den Kapitalmärkten weltweit.

Beispiellos expansive Fiskalpolitik und Unterschiede im Krisenmanagement

Die Prognosen sprechen eine deutliche Sprache: In sämtlichen Ländern und Regionen der Welt wird das BIP-Wachstum 2020 negativ ausfallen, teilweise sogar „tiefrot“. Für die USA rechnet die US-Notenbank Fed beispielsweise mit einem Minus von 6,5 Prozent für das Bruttoinlandsprodukt. Die tatsächliche Entwicklung unterliegt dabei allerdings stetigen dynamischen Veränderungen – so hat sich aufgrund der Lockerungen in vielen Regionen weltweit das wirtschaftliche Geschehen wieder ein Stück weit normalisiert, etwa im Einzelhandel und bei der Industrieproduktion. „Die Regierungen stemmen sich mit aller Macht gegen einen möglichen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Konsumeinbruch. Dies erfordert aber auch eine beispiellos expansive Fiskalpolitik“, erklärt Tilmann Galler. Angesichts der massiven staatlichen Unterstützungsmaßnahmen fühle sich nach Meinung des Kapitalmarktexperten die aktuelle wirtschaftliche Situation bei vielen Menschen immerhin nicht so dramatisch an.

Indessen konstatiert der Experte, dass es einige wesentliche regionale Unterschiede beim staatlichen Krisenmanagement gibt: Während die USA vor allem auf finanzielle Hilfen für die entlassenen Arbeitnehmer setzen, möchte man in Europa gerade auch dafür Sorge tragen, dass die Verbindung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht gekappt wird, etwa durch Kurzarbeitergeld.

Die „unvollständige“ Erholung – Beeinflussung der US-Wahlen durch die Krise möglich

Mit Blick auf die Stimmungsindikatoren sieht laut Tilmann Galler vieles nach einer V-förmigen Erholung aus. Doch der Schein trüge: „Solange das Virus noch da ist und keine vollkommene Bewegungsfreiheit besteht, werden einige Bereiche der Wirtschaft weiterhin große Probleme haben. Die Erholung ist dadurch unvollständig. Erst wenn die Covid-19-Krise vollständig überwunden ist, kann dies auch für die Erholung zutreffen“, erklärt Galler. Angesichts des Geschehens vor allem in den USA, Lateinamerika und teilweise in Asien, mit stark zunehmenden Neuinfektionen, kann die aktuelle Situation noch länger andauern als vielen lieb ist.

Für die US-Wahlen im November sieht es nach Einschätzung von Tilmann Galler zunehmend danach aus, dass die Coronakrise auch politische Auswirkungen haben könnte. „Die aktuell stark vom Virus betroffenen US-Staaten sind in der Mehrzahl republikanisch. Es zeigt sich, dass Donald Trump selbst in den Staaten, die eigentlich als republikanische Hochburgen gelten, in die Defensive gerät“, erklärt Galler. So bleibt es abzuwarten, wie sich beide Kandidaten für das US-Präsidentenamt in den nächsten Monaten insbesondere mit Blick auf das weitere Krisenmanagement positionieren und was das letztlich auch für die Märkte bedeuten könnte.

Niedrigzins schafft neue Herausforderungen sowohl bei Anleihen als auch bei Aktien

Die aktuelle Situation stellt Anleger vor besondere Herausforderungen. Dies trifft insbesondere auf die Anleihenseite zu, da die Renditen vieler Anleihen längst nicht mehr inflationsdeckend sind. Interessant sind nach Analyse von Tilmann Galler trotz Rückgang der Risikoaufschläge Investment-Grade-Anleihen, da diese weiterhin durch die Zentralbankkäufe unterstützt werden und die Ausfallrisiken gering sind. Im Hochzinsbereich sei jedoch ein genauer Blick nötig: „Der realwirtschaftliche Effekt der Pandemie wurde durch die Stützungsmaßnahmen abgefedert, doch sobald diese zurückgefahren werden, wird die Zahl der Insolvenzen zunehmen. Die Anzahl der ‚Fallen Angels‘, die aus dem Investment-Grade-Segment in den Hochzinsbereich fallen, wird damit weiter ansteigen“, stellt der Kapitalmarktexperte fest. Zudem könnte es bei den High-Yield-Anleihen vermehrt zu Ausfällen kommen.

Auf der Aktienseite haben sich nach Analyse von Tilmann Galler die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGVs) kräftig erhöht – weil einerseits die Kurse gestiegen, die Gewinne jedoch gefallen sind. Das zukünftige Potenzial der Aktienmärkte hat aus Sicht von Tilmann Galler jedoch nachgelassen. Getrieben wurde die Aktien-Performance insbesondere durch Wachstumstitel wie Google und Amazon. „Ganz untypisch für eine Markterholung am Ende einer Rezession hat es keinen Umschwung hin zu Value-Titeln gegeben. Statt etwa Energie- oder Finanzwerte bevorzugen Investoren nach wie vor Wachstumstitel. Sie  setzen weiterhin auf die relativen Gewinner der Coronakrise, das heißt vor allem auf online-basierte Geschäftsmodelle, und glauben nicht an eine anstehende Erholung klassischer zyklischer Branchen. Die Bewertungsdivergenzen innerhalb des Aktienmarkts sind dadurch nach unserer Einschätzung auf das höchste Niveau seit der Jahrtausendwende gestiegen“, erklärt Tilmann Galler.

Titelselektion wird wichtiger, breitere Diversifikation nötig

In der aktuellen Situation gelte es nun, einen balancierten Ansatz zu finden. Wichtig sei es, Qualitätsunternehmen mit solider Bilanz stärker zu fokussieren – diese finde man sowohl im Growth- als auch im Value-Segment, ebenso wie einerseits bei Large Caps als auch bei Small oder Mid Caps. Gleichwohl müssten aufgrund der weltweit tiefen Zinsen neue Wege bei der Anlage gegangen werden, sowohl mit Blick auf die Renditen als auch mit Blick auf das Risikomanagement. „Alternative Anlagen helfen die Rendite-Risiko-Struktur zu verbessern. Dazu zählen beispielsweise Fonds mit Makro-Strategien, Immobilien und Infrastruktur-Investments“, sagt Tilmann Galler. Grundsätzlich sei es angebracht, auch international breiter zu diversifizieren.

Im Anleihen-Segment sieht Galler sowohl Investment-Grade-Anleihen als auch High-Yield-Anleihen höherer Qualität, ebenso wie Emerging-Markets-Anleihen aus China im Vorteil. Auf der Aktienseite lohne sich neben Qualitätsaktien auch ein Blick auf Asien, denn die Region sei uns, was die Eindämmung der Pandemie und die Erholung der Wirtschaft betrifft, einen Schritt voraus.

 

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