Momentan ist die Versicherungswirtschaft von COVID19 weitaus weniger betroffen als Industrien wie etwa Tourismus oder die Automobilwirtschaft.
Die Rahmenbedingungen werden sich jedoch auch hier bis 2030 grundlegend verändern und zwar weit über die aktuell diskutierten Themen hinaus. Versicherungsunternehmen werden Antworten auf nahezu unausweichlich eintretende Entwicklungen und auch auf ungewisse Bedrohungsszenarien finden müssen. Das zeigt die Studie „Versicherungen 2030“ von Oliver Wyman.
Die Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf die Versicherungswirtschaft in Deutschland werden immer noch unterschätzt. Diese Tatsache überrascht, denn bis 2030 soll es schätzungsweise 4,0 Millionen weniger Bestands- und potenzielle Neukunden im Alter bis zu 60 Jahren, dagegen 3,4 Millionen mehr Kunden in der Altersgruppe über 60 geben.
Auf die neuen Prioritäten und neuen Bedarfe ist die Versicherungswirtschaft bisher nicht ausreichend vorbereitet. „Nie zuvor ist innerhalb eines Jahrzehnts eine derart große Verschiebung um Millionen Nachfrager nach Versicherungs- und Altersvorsorgeprodukten erfolgt. Die Auswirkungen auf das Geschäft zu kompensieren, wird eine immense Herausforderung für alle Versicherer, zumal sich auch die Bedarfe der nachrückenden Generationen ändern“, warnt Dietmar Kottmann, Partner bei der Strategieberatung Oliver Wyman und Co-Autor der Studie. Die Unternehmen werden neue Konzepte für flexible Altersabsicherungen auch im fortgeschrittenen Alter und neue Instrumente zur Behauptung im Wettbewerb eines gesättigten Versicherungsmarktes entwickeln müssen.
„Im zukünftigen Konkurrenzkampf geht es um Spitzenplätze in Anbieterrankings durch bessere, passgenaue Produkte und überzeugende Verkaufsargumente am Puls der Zeit. Die Neukunden von morgen suchen Transparenz, Convenience und wirklich erlebbaren Kundenmehrwert, auch neue Leistungsangebote in der Schadenabwicklung“, so Rouget Pletziger, Principal bei Oliver Wyman und Co-Autor der Studie. Der Wettbewerb wird härter und mit intelligenteren Waffen ausgetragen: Mehr Dynamik bei Produkt- und Preisanpassungen, intelligente Mehrjahreskalkulation zur Nutzung preislicher Spielräume auch zum Wohle des Kunden, aber ebenfalls ein rigoroses Bestandsmanagement gehören dazu.
Amazon ist überall: die Plattformökonomie hält Einzug in den Versicherungsmarkt
Die Plattformökonomie wird nach dem Handel nun auch die Versicherungswirtschaft dominieren. Produkt- und Preisvergleiche für Kunden und Makler sind heute schon Alltag, umfassende Produktangebote über Drittanbieter-Plattformen der nächste Schritt. Oliver Wyman prognostiziert, dass Plattformen bis 2030 von bisher weniger als 30 auf über 60 Prozent des Neugeschäftes im ungebundenen Vertrieb kontrollieren werden.
„Versicherungsunternehmen konkurrieren in der Plattformökonomie mit fremden Branchen: Immer leichter lassen sich Versicherungslösungen in andere Angebote integrieren oder von Anbietern außerhalb des Versicherungssektors separat über digitale Kanäle vertreiben“, sagt Pletziger. Plattform- und andere Anbieter können Versicherungsunternehmen zum Teil obsolet machen, sie aus einzelnen Produktfeldern drängen, auf Teilfunktionen im Hintergrund degradieren oder zur Flucht in Dienstleistungsfelder außerhalb ihres traditionellen Kerngeschäfts zwingen. Aus diesem neuen Wettbewerb werden auch neue Gewinner hervorgehen. „Plattformen ändern die Spielregeln im Drittvertrieb. Nur wer sich konsequent darauf einstellt, kann davon profitieren. Halbherzige Strategien der Vergangenheit werden zukünftig nicht mehr funktionieren” sagt Kottmann. Während in der Vergangenheit die Uhren der Veränderung langsam tickten, nutzen die Dynamischen jetzt ihre Chancen. InsurTechs, die sich heute schon erfolgreich über Plattformen positionieren, können Versicherern dabei helfen.
Versicherer mit starken Eigenvertrieben werden zu kämpfen haben, um auch zukünftig als Risikopartner des Kunden erste Wahl zu bleiben. „Zwei Drittel der Kunden würden für maßgeschneiderte Finanzangebote ihre Daten offenlegen, aber nur in seltenen Fällen einem Versicherer. Und fast 60 Prozent würden über ihre Hausbank Produkte anderer Finanzanbieter beziehen“, so Kottmann über die Gefahr des Kundenkontaktverlustes für die etablierten Versicherungsunternehmen. Die Vision innovativer Banken ist das Financial Home als neue digitale Allfinanzplattform der Zukunft. Für die Versicherer bedeutet diese Entwicklung einen Wettlauf um die Position als bester Partner und Produktanbieter auf solchen Plattformen.
Unzureichende Vorsorge – ungewisse Vorsorgesystementwicklung
Eine weitere Bedrohung für die Branche liegt in der ungewissen Zukunft des Altersvorsorgesystems in Deutschland. Oliver Wyman geht davon aus, dass der Staat mit weiteren Reformen noch stärker auf eine effektiv geförderte betriebliche Altersversorgung setzen wird – je nach Szenario zu Lasten der Versicherungswirtschaft. Im Extrem könnte es – dies zeigen Beispiele aus anderen Ländern – so weit kommen, dass 70 bis 80 Prozent der gesamten Neuanlagen nicht mehr über Versicherungen, sondern über Versorgungswerke und Pensionsfonds, möglicherweise sogar über einen diskutierten „Deutschlandfonds“ erfolgen.
„Die private Krankheitskostenvollversicherung ist ebenfalls kein Wachstumsmarkt mehr für die Versicherungsunternehmen. Das Damoklesschwert der Bürgerversicherung schwebt zudem immer noch über der Branche. Wer nicht nur abwarten will, steuert sein Geschäft um in Zusatzversicherungen und die betriebliche Krankenversicherung“, sagt Kottmann. Hier entstehen neue Potenziale und Verbindungen zum digitalen Gesundheitsmarkt. Insbesondere die betriebliche Krankenversicherung im Zusammenspiel mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement wird für alle Branchen ein immer wichtigeres Mittel zur Rekrutierung und Mitarbeiterbindung. Hier gibt es reichlich Gestaltungsraum für Versicherungsunternehmen.
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