Marktkommentar von Michael Winkler, Leiter Anlagestrategie bei der St.Galler Kantonalbank Deutschland AG
Die entscheidende aktuelle Frage für die Aktienmärkte lautet: Handelt es sich beim Coronavirus um ein vorübergehendes Ereignis, oder wirkt sich das Virus ernsthaft und längerfristig auf die Weltwirtschaft aus? Mit absoluter Sicherheit kann diese Frage derzeit noch niemand beantworten, denn die Nebel lichten sich nur langsam. Die Reaktionen auf die deutliche Zinssenkung der US-Notenbank in dieser Woche deuten allerdings darauf hin, dass die Aktienmärkte eher von stärkeren Auswirkungen ausgehen. In diesem Fall hätte die Weltwirtschaft gleich mit einem doppelten Schock zu kämpfen: Zum ersten mit einem Angebotsschock, geprägt durch Werksschließungen, Unterbrechung der Lieferketten und Notbetrieb im Home Office. Und zum zweiten mit einem Nachfrageschock, ausgelöst durch eine massive Zurückhaltung von Verbrauchern, indem Freizeitaktivitäten und ganze Urlaube gestrichen werden, Massenveranstaltungen wie Konzerte, Messen oder Fußballspiele gemieden werden oder gleich ganz ausfallen.
Da dieses Szenario alles andere als unrealistisch wirkt, kann es nicht verwundern, dass die Aktienmärkte sich von den Zinssenkungen der Fed nicht wirklich haben inspirieren lassen. Im Gegenteil: Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass die Fed durch ihre massive Zinssenkung möglicherweise erst recht Angst und Panik an den Märkten noch verstärkt hat. Wie auch immer: Am gestrigen Donnerstag hat der Dow Jones mit mehr als drei Prozent im Minus geschlossen. Beim S&P 500 und dem Nasdaq-Composite sah es ähnlich aus. Und so liegt die Interpretation nahe, dass die erste Erholungswelle in den weltweiten Leitindizes schon wieder vorbei ist und eine zweite Abwärtswelle vor der Tür steht, deren Kursrückgangs-Potenzial sich ungefähr mit zehn Prozent beziffern lässt.
Es fällt dabei auf, dass ohnehin bereits seit Jahren vergleichsweise schwache Indizes wie der Dax auch die erste Erholungswelle deutlich schwächer mitgemacht haben als zum Beispiel die US-Indizes. Und gerade für den Dax gilt: Wenn es leichte Aufwärtsbewegungen gab, wurden diese in den vergangenen Tagen gleich wieder nach unten korrigiert.
Kurzfristig – das heißt in den nächsten Wochen – wird das Geschehen weiter hektisch bleiben. Das alles ist aber für Anleger kein Anlass zur Resignation. Jede kritische Situation bietet auch immer Chancen. Ein Blick in die Historie seit 2008 zeigt: In den allermeisten Fällen lag der Dax nur ein Jahr, nachdem die Volatilität einen Höhepunkt erreicht hatte und der deutsche Leitindex auf ein entsprechend tiefes Niveau gefallen war, schon wieder höher als zum Ausgangszeitpunkt, und das mit teilweise mehr als 20 Prozent Wertzuwachs. So kann eine extreme Zunahme der Volatilität, wie wir sie derzeit beobachten können, also auch gute Einstiegsmöglichkeiten eröffnen. Wer langfristig orientiert ist – und darin liegt bekanntlich eine wichtige Voraussetzung, um an der Börse zu investieren – tut jedenfalls gut daran, sich nicht von der allgemein herrschenden Hektik anstecken zu lassen, sondern die Entwicklung engmaschig zu verfolgen und anhand seines individuellen Risiko-Rendite-Profils zu bewerten.
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